Was ist eigentlich Eigentlichkeit?

Abstract

Nachstehendes bildet den Text eines Vortrags, den ich am 24.07.2009 im Institut für Philosophie an der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, gehalten habe. Ich werde sobald wie möglich ein richtiges Abstrakt schreiben.

Für inhaltliche wie auch sprachliche Kritik möchte ich mich bei Karl Mertens bedanken.

Einleitung

Was meint Heidegger, wenn er von der Eigentlichkeit spricht, oder vielmehr vom eigentlichen Selbstsein? Sein und Zeit selbst ist bekanntlich recht dunkel. Und die Sekundärliteratur, sofern sie die Rede von Eigentlichkeit nicht von vornherein als politisch dubioses Geschwätz abstempelt, tut sich damit schwer, ihr einen mehr als erbaulichen Sinn abzugewinnen.

Angesichts dessen scheint mir hermeneutische Kühnheit geboten. Ausgehend von der Textstelle, die wohl vor allen anderen einer expliziten Charakterisierung der Eigentlichkeit am nächsten kommt, will ich eine radikale Rekonstruktion versuchen, die sich an den folgenden Adäquatheitsbedingungen zu bewähren hat: sie muß erstens die Textstelle, von der wir ausgehen, verständlich machen; zweitens die metaphilosophische Schlüsselrolle herausstellen, die Heidegger in dieser Passage dem Begriff der Eigentlichkeit beimißt; und drittens den philosophischen Wert des Begriffs belegen. Die hierfür in Frage kommende Textstelle ist die folgende:

Das Dasein ist eigentlich selbst in der ursprünglichen Vereinzelung der verschwiegenen, sich Angst zumutenden Entschlossenheit. Das eigentliche Selbstsein sagt als schweigendes gerade nicht »Ich-Ich«, sondern »ist« in der Verschwiegenheit das geworfene Seiende, als welches es eigentlich sein kann. Das Selbst, das die Verschwiegenheit der entschlossenen Existenz enthüllt, ist der ursprüngliche phänomenale Boden für die Frage nach dem Sein des »Ich«. … Die ontologische Frage nach dem Sein des Selbst muß herausgedreht werden aus der durch das vorherrschende Ich-sagen ständig nahegelegten Vorhabe eines beharrlich vorhandenen Selbstdinges. (Sein und Zeit, § 64, H 322-323)

Was ist die Entschlossenheit und was besagt es, daß sie sich eine vereinzelnde, verschwiegene Angst zumutet? In welchem Sinn ist sie das eigentliche Selbstsein und damit der Schlüssel zum Verständnis der ontologischen Tiefenstruktur des Daseins, jenes Seienden also, das den Satz „Ich bin“ denken, und zweifellos gerade deshalb auch sagen kann? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir zuerst nach dem Dasein fragen, das sich die Angst eben nicht zumutet, sondern ihr ausweicht. Das ist das Dasein im Modus der Alltäglichkeit, das sogenannte man-selbst, welches in das verloren ist, was Heidegger das Man nennt.

Das Man und das Man-selbst

Im vierten Kapitel des ersten Abschnitts von Sein und Zeit, dem Kapitel, also, in dem Heidegger das Man und das Man-selbst bespricht, gehen wir dem Phänomen nach, das sich in der Frage ausspricht: „wer ist es, der in der Alltäglichkeit das Dasein ist?“ (Sein und Zeit, H 113-114) Das ist, wie die entsprechende Stelle in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie belegt,1 die Frage danach, als was sich das Dasein am ursprünglichsten denkt, wenn es denkt, „Ich bin.“ Nach Descartes, Kant und Husserl beantwortet sich diese Frage

… aus dem Ich selbst, dem »Subjekt«, dem »Selbst«. Das Wer ist das, was sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches durchhält und sich dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht. Ontologisch verstehen wir es als das in einer geschlossenen Region und für diese je schon und ständig Vorhandene, das in einem vorzüglichen Sinne zum Grunde liegende, als das Subjectum. Dieses hat als Selbiges in der vielfältigen Andersheit den Charakter des Selbst. (Sein und Zeit, § 25, 114)

Der neuzeitliche Ansatz „beim Subjekt“ hat sein gewisses Recht: wir setzen bei uns selbst an, und zwar in unserer Eigenschaft als Seiendes, das „Ich bin“ denken kann. Der Ansatz läuft aber gerade in dem Moment schief, wo das im „Ich bin“ angesprochene Selbstsein als das bloße Denken weiterbestimmt wird—in dem Moment also, wo Descartes sagt, sum cogitans.

Sollte das »cogito sum« als Ausgang der existenzialen Analytik des Daseins dienen, dann bedarf es nicht nur der Umkehrung, sondern einer neuen ontologisch-phänomenalen Bewährung seines Gehalts. Die erste Aussage ist dann: »sum« und zwar in dem Sinne: ich-bin-in-einer-Welt. Als so Seiendes »bin ich« in der Seinsmöglichkeit zu verschiedenen Verhaltungen (cogitationes) als Weisen des Seins bei innerweltlich Seiendem. Descartes dagegen sagt: cogitationes sind vorhanden, darin ist ein ego mit vorhanden als weltlose res cogitans. (Sein und Zeit, § 44 b), H 211)

Also, bei der Weiterbestimmung seiner selbst als res cogitans setzt Descartes voraus, daß er sich seiner selbst ursprünglich bewußt, d.h. ursprünglich gegeben ist als anonymer Träger intentionaler Zustände und Erlebnisse—als wäre nichts anderes nötig, um den Satz „Ich bin“ denken zu können.

Doch bereits in der dem vierten Kapitel vorausgeschickten Analyse der Weltlichkeit hat sich ein anderes Verständnis dessen angebahnt, wie sich das Ich ursprünglich gegeben ist. Denn dort soll Folgendes gezeigt worden sein: das Dasein hält sich zunächst und zumeist in einer offenen Struktur von Zeugzusammenhängen auf, in der es sich der einzelnen Glieder dieser Zusammenhänge auf konventionelle Weise bedient. Da es sich um konventionelle Bedienungs- und Gebrauchsweisen handelt, ist diese Struktur von vornherein eine intersubjektiv Geteilte. Das Dasein existiert also immer schon in zeugvermittelter Interaktion mit Anderen, die ebenfalls des „Ich bin“ je fähig sind. Das Dasein begegnet ursprünglich gerade nicht als etwas, das sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als anonym Identisches durchhält, sondern als etwas, das sich im Wechsel der intersubjektiven Rollen und Beziehungen als Selbiges erhält. „Dasein findet »sich selbst« zunächst in dem, was es betreibt, braucht, erwartet, verhütet—in dem zunächst besorgten umweltlich Zuhandenen.“ (Sein und Zeit, § 26, H 119) Was sind nun die Bedingungen der Möglichkeit dessen, daß dem Dasein sein Ich auf diese Weise ursprünglich gegeben ist? Was für Folgen hat dies für die Selbigkeit seines Ichs?

Das Dasein, sagt Heidegger, „ versteht … sich und seine Existenz aus dem, was [es] betreibt und besorgt.“2 Es erhält sich als Selbiges, sowohl an sich als auch für sich, also nur insofern, als es sich auch für andere als ein Selbiges erhält. Folglich hat es eine anderen verständliche, eigene, d.h. persönliche Identität, die in der Interaktion mit anderen erworben und erhalten wird. Gerade deshalb ist das In-der-Welt-sein, wie der Titel des vierten Kapitels ankündigt, eine unzertrennliche Einheit von Mit- und Selbstsein.3 Nun gerade weil es eine solche Einheit ist, spricht Heidegger von dem Man. Denn ich bin nur dann für andere erkennbar als ein Selbiges im Wechsel der intersubjektiven Rollen und Beziehungen, wenn ich eine nach ihren Maßstäben zeitlich kohärente Identität aufweise. Um objektiv ein Selbst zu sein, mir selber also subjektiv als eines solchen gegeben zu sein, muß ich den anderen gegenüber als ein verständliches Wer auftreten. Das setzt aber voraus, daß zwischen mir und den anderen ein intersubjektiv geteiltes, eben ein im Sinne von Lewis und Schiffer gemeinsames Wissen4 davon besteht, wie ein normales, kohärentes Selbst, so wie wir es eben sind, unter den und den Umständen sich verhält und faktisch ist. Etwas, das den Satz „Ich bin“ denken kann, existiert nur mit anderen in dem Sinne, daß es mit diesen ein gemeinsames Wissen davon teilt, was man durchschnittlich ist and tut. Dieses gemeinsame Wissen, das das Miteinander von einem bloßen Nebeneinander unterscheidet, ist das Man.

Aber wie genau ermöglicht das Man das Selbstsein, wie auch das damit einhergehende Mitsein? Das Auszeichnende an einem sogenannten ‘Vernunftwesen’ ist nicht bloß die Fähigkeit, Regeln innerhalb einer Praxis zu befolgen. Mindestens genau so wichtig ist die Fähigkeit zu entscheiden, wann es Zeit ist, in eine Praxis ein- bzw. aus ihr herauszusteigen. Stellen wir uns vor, einer von uns würde plötzlich zusammenbrechen, ich aber würde einfach weiterreden—als ob ich gar nicht erkannt hätte, daß es jetzt Zeit ist, die Praxis des wissenschaftlichen Vortragens abzubrechen, um Hilfe zu leisten. Würde ich mich regelmäßig so verhalten, so würden andere allmählich zu der Überzeugung kommen, daß ich ein defizientes Selbst, ja vielleicht eigentlich gar kein Selbst bin.5 Um in regelgeleiteten sozialen Praxen zu stehen, kann ich nicht nur in diesen stehen, ich muß auch über sie hinaus sein, sie mit der jeweiligen Situation zeitlich vermittelnd.6

Der Einstieg in eine Praxis, wie auch der Austieg aus ihr und der Übergang von der einen zur anderen, sind also nicht selbst Züge innerhalb einer Praxis. Dieser Wechsel wird also nicht von praxisinternen Normen geregelt, sondern bemißt sich daran, inwiefern er, unter Rückgriff auf praxisübergreifende ethische Normen und Werte, die Befolgung konventioneller Regeln und die in der konkreten Situation zu berücksichtigenden Interessen zum reflexiven Gleichgewicht miteinander bringt bzw. sie darin erhält. Gerade dazu dient das Man. Es enthält Ressourcen zur Lösung dieser Aufgabe, insbesondere, fertige Lösungsmuster, damit kein besonderes Nachdenken und keine besondere Motivation erforderlich sind. Bedient sich das Dasein dieser Lösungsmuster, wie das zunächst und zumeist der Fall ist, so verhält es sich, wie man sich verhält. Das Dasein ist dann das, was Heidegger das man-selbst nennt—ein Selbst im alltäglichen Sinn, wobei das, was als alltäglich gilt, davon abhängt, was in der jeweiligen Gruppe als durchschnittlich angesehen wird.

Es ist also jedem Selbst gleichsam strukturell aufgetragen, im Lichte ethischer Normen und Werte die Befolgung konventioneller Regeln mit den jeweils zu berücksichtigenden Interessen, darunter auch den eigenen, zu vermitteln. Daraus folgt nicht, daß so einer wie Ted Bundy unmöglich wäre. Nur Bundy, ein psychopathischer Serienmörder, dem die Interessen anderer, und damit auch alle ethischen Normen und Werte, völlig egal waren, ist ein parasitäres Selbst, nicht nur in einem evolutionstheoretischen, sondern auch in einem ontologischen Sinn. Auch er mußte, um sich selbst als sich selbst erfassen zu können, die Interessen anderer, wie auch die üblichen Normen und Werte verstehen, wenn er auch davon nicht betroffen werden konnte. Seine Existenz setzt die Existenz anderer voraus, die diese Dinge nicht nur erkennen, sondern sich davon be-stimmen lassen.

Nun nach Heidegger ist es dem Dasein nur insofern möglich, diese gleichsam strukturell eingebaute Aufgabe zu erfüllen, als es aus einem skizzenhaften, stets von neuem zu klärenden Verständnis7 dessen handelt, wie es würdigerweise ist und idealerweise wäre. Heidegger nennt dieses Selbstverständnis bzw. dessen Gehalt das eigene Seinkönnen. Zum Selbstsein überhaupt gehört also eine strukturelle Ausgerichtetheit darauf, das Selbst zu sein, wovon man weiß, daß man es würdigerweise ist und idealerweise sein will. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß das keineswegs so einen wie Ted Bundy ausschließt. Allerdings kann ein solches Selbst, das sich selbst weder achtet noch mißachtet, nur insofern existieren, als es andere gibt, die einen Sinn für die eigene Würde haben.8

Der Begriff der Angst

Wir können jetzt sinnvoll fragen, was die Angst ist und warum sie eine ausgezeichnete Möglichkeit des Daseins bildet. Zunächst ist zwischen Furcht und Angst zu unterscheiden. Man fürchtet sich vor dem Einbrecher, den man nachts in der Wohnung erwischt, er könnte einen umbringen. Man ängstigt sich vor der bevorstehenden Prüfung, weil sie einem so wichtig ist, daß man sich als kläglichen Versager ansehen müßte, sollte man durchfallen. Bei der Angst geht es also um etwas, das man als erstrebenswert anerkennt und so sehr erstreben will, daß man die Wahrung der Selbstachtung damit verbunden hat. Gleichwohl geht es bei der Angst in dem von Heidegger intendierten Sinn um etwas wesentlich tieferes als die Alltagsangst vor einer Prüfung. Das läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das mit den Interessen und der Entwicklung Heideggers bis hin zu Sein und Zeit sehr schön zusammenpaßt.9 Dieses Beispiel10 ist Martin Luther.11

Bekanntlich geht die Theologie Luthers aus tiefster persönlicher Krise und Verzweifelung hervor. Anfangs meinte er, in Übereinstimmung mit der katholischen Heilslehre, daß man das Seelenheil erlangt, indem man die Unterdrückung der Sünde gewissenhaft anstrebt, so daß die eigenen Werke gut, die eigenen Handlungsmotive rein wären. Das wirft aber die Frage auf, wie man sich dessen vergewissern kann, daß angeblich gute Werke und Absichten tatsächlich gut sind. Schließlich kann man die äußeren Umstände falsch beurteilen, so daß eine gut gemeinte Handlung das Böse zeitigt. Ebenfalls kann man die inneren Umstände falsch beurteilen, d.h. sich darüber täuschen, was die eigenen Handlungsmotive eigentlich sind.

Luthers Bemühungen darum, sich seines Seelenheils aufgrund dieser Auffassung dessen zu vergewissern, was zum Seelenheil berechtigt, hat ihn gelehrt, daß die Aufgabe unmöglich ist. Die nötige Gewißheit blieb aus. Er geriet in tiefste Verzweifelung—bis ihm nach langem Studium der Heiligen Schrift dämmerte, daß die traditionelle Heilslehre auf einem Mißverständnis beruht—sowohl dessen, was zu dieser Gewißheit berechtigt; als auch dessen, was das Seelenheil ist. Der Gerechte lebt nicht primär nach, sondern aus dem Glauben.12 Nicht die sind gerettet, die danach trachten, den Geboten des christlichen Glaubens zu entsprechen, sondern die, deren Handeln diesem Glauben entspringt.13 Aus begrifflichen Gründen läßt sich das Seelenheil nicht erwerben, sondern nur empfangen. Man hat nur auf die unerschütterliche Liebe und damit auch Gnade Gottes zu vertrauen.14 Tatsächlich hatte Luther nie die epistemische Bürde gehabt, die ihn so quälte.15

Der Zustand, in dem sich Luther befand, bevor ihm klar wurde, was Gott von ihm wollte, gibt zu erkennen, was Heidegger unter Angst versteht.16 Luther will dem Herrn treu, dessen Gnade würdig sein, erfährt aber zugleich die Ungewißheit seines Strebens danach. Genau wie der sich vor einer Prüfung ängstigende Schüler befindet er sich in einem Zustand, der darin besteht, daß er das Versagen, folglich die eigene Nichtigkeit in Hinsicht auf etwas antizipiert, was er als erstrebenswert anerkennt und so sehr sein will, daß er seine Selbstachtung mit dessen Verwirklichung verbunden hat. Doch am Ausmaß der Angst Luthers zeigt sich der entscheidende Unterschied. Konstitutiv für die existenzielle Angst ist nicht nur die Befürchtung, daß man einem sehnlich gewollten Ideal nicht entsprechen kann—etwas, das man als das eigene Seinkönnen entweder implizit oder explizit gewählt hat. Luthers Angst wird zur äußersten Verzweifelung dadurch gesteigert, daß ihm der Kampf gegen die Sünde so hoffungslos erscheint, daß ihm unverständlich wird, wie ein liebvoller Gott so etwas von ihm verlangen kann. Die Forderung, sich auf diesen Kampf einzulassen, droht ihre Legitimität einzubüßen, was sein Verständnis von Gott und dem Christsein erschüttert.

So etwas geschieht nie in der Alltagsangst eines Schülers, der bloß um das Bestehen einer Prüfung bangt. Eine solche Angst ist in ihrer Alltäglichkeit dadurch definiert, daß es relativ klare, traditionell und kulturell festgelegte Kriterien dafür gibt, ob die Angst erregende Aufgabe erfüllt worden ist. Bekommt man eine Eins, hat man eben gut bestanden. Doch die Aufgabe, sich soweit wie möglich sündenfrei zu halten, hat keine solchen Kriterien. Gerade deshalb fühlt sich Luther wider Willen betrogen und er entrüstet sich. Wie kann Gott etwas von ihm verlangen, das sich, sobald er meint, es erreicht zu haben, hinter einen Schleier von Zweifeln entzieht? In diesem Moment schleudert er das Tintenfaß gegen die Wand, um sogleich entsetzt festzustellen, daß er dabei ist, die schlimmste aller Sünden zu begehen, den Aufstand gegen Gott. Er wirft sich auf sein Bett und weigert sich aufzustehen—bis ihm klar wird, daß auch Nichtstun ein Tun ist.17

Luther ängstigt sich also nicht bloß davor, als Christ zu versagen, sondern auch zugleich vor der existenziellen Inkohärenz, in die er angesichts seiner ‘Anfechtungen’ hineingeraten ist. Seine Verzweifelung liegt auch in der bei ihm immer stärker werdenden, nicht abzuschüttelnden Überzeugung, daß er sich bei allen möglichen Handlungen H nie gewiß sein kann, ob er H tun oder nicht tun soll.18 Durch diese existenzielle Inkohärenz, die sich aus seinem traditionellen Verständnis dessen ergeben hat, was es heißt, ein guter Christ zu sein, wird nicht nur dieses Durchschnittsverständnis erschüttert, sondern auch sein eigenes Selbstverständnis. Das Christseinkönnen, wie auch alles, worin dieses sein eigenes Seinkönnen gründet, wird brüchig.

Jetzt lassen sich zwei Beschaffenheiten, die Heidegger der existenziellen Angst zuschreibt, sehr schön verständlich machen. Wie wir gesehen haben, erwächst die Angst Luthers dem Erlebnis existenzieller Inkohärenz und damit auch der drohenden Selbstauflösung. Ist das aber so, dann muß die Angst erstens den weltlichen Dingen ihren sinnstiftenden Orientierungspunkt, ihr Worumwillen, nehmen—gerade das, in dessen Lichte sie als für dieses dienlich, jenes abträglich erfahren werden. Die alltäglich-umsichtige Wahrnehmung, die das alltägliche Besorgen in dem Sinn führt, daß sie die Dinge in ihrer Relevanz für das Worumwillen entdeckt, wird suspendiert. Nicht, daß sie buchstäblich am Ende wäre.19 Die Relevanz der Dinge, ihre Bedeutsamkeit, bleibt immer noch sichtbar, ist aber gleichsam eingeklammert. Sie zeigt nur an, wie man sich sinnvollerweise verhalten müßte, wenn nicht das, was alles bedeutsam sein läßt, sich als inkohärent erwiesen hätte. Luther erlebt die Dinge als nicht mehr dazu fähig, ihn tatsächlich zu motivieren. Infolgedessen kommt die Welt als solche in den Blick, und zwar als ein Nichtiges, in dem er nicht mehr zu Hause sein kann. Alles ist unheimlich geworden.

Zweitens muß die Angst den darunter Leidenden sowohl vereinzeln als auch schweigen lassen. Der Kampf gegen die Sünde, der Luther in die existenzielle Inkohärenz treibt, hat etwas Zwanghaftes, Unvernünftiges an sich.20 An allen gewöhnlichen, alltäglichen Maßstäben gemessen ist sein Verhalten irrational. Gott hat sicherlich niemals beabsichtigt, so wird man sagen, daß wir den Kampf gegen die Sünde so ernst nehmen, daß wir uns radikal handlungsunfähig machen.21 Doch gerade in dieser Antwort drückt sich das aus, was Heidegger als die Flucht in bzw. das Verfallensein an das Man bezeichnet. Zu beachten ist, daß Heidegger zurecht behauptet, erstens, daß eine Fluchttendenz zum Wesen des Selbstseins gehört, und zweitens, daß die Rede von Flucht nicht abwertend zu verstehen ist: In der Regel, ceteris paribus, behält das Man in den meisten Dingen recht, woraus folgt, daß der Einzelne immer dazu berechtigt ist, natürlich nur fallibellerweise, sich an das Man zu halten, wenn nichts dagegen spricht.22 Deshalb ist die soeben zitierte beruhigende Antwort auf die Angst eine durchaus vernünftige.23

Die Angst zerreist also die Verständlichkeit, die Luther mit seinen Mitmenschen verbindet; er kann ihnen nichts sagen, was seine Haltung verständlich machen würde. Er ist allein, vereinzelt. Aber gerade weil er sich nicht verständlich machen kann, kann er sich auch nicht rechtfertigen. Das ist ihm peinlich, denn die intersubjektive Begründbarkeit behält für ihn einen tiefen Wert. Gerade deshalb sagt er nichts, er schweigt. Er ist verschwiegen, und zwar deshalb, weil er kein Fanatiker ist. Nach Kierkegaard soll auch Abraham aus diesem Grund geschwiegen haben.

Zusammenfassend kann man Folgendes sagen: Die existenzielle Angst besteht zunächst in der Antizipation eines Versagens in Hinsicht auf etwas Erstrebenswertes, von dessen Verwirklichung die eigene Selbstachtung abhängt. So viel teilt sie mit der Angst im alltäglichen Sinn. Doch sie unterscheidet sich von der Alltagsangst gerade dadurch, daß ihr keine festen, konventionellen, eben alltäglichen Kriterien zugrunde liegen, die es erlauben würden, festzustellen, ob das Erstrebenswerte tatsächlich erstrebt worden ist. Dadurch entsteht eine radikale epistemische Ungewißheit, die zur Antizipation bevorstehender Selbstauflösung aus existenzieller Inkohärenz24 führt.

Nun paßt diese Charakterisierung der Angst sehr gut mit der formalen Struktur zusammen, die Heidegger der Angst zuschreibt. Die Angst, so schreibt Heidegger, „… wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können.“ (Sein und Zeit § 40, H 187) Etwas später schreibt er, „das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst … das In-der-Welt-sein-können.“ (Sein und Zeit, § 41, H 191) Also, bei der nicht-alltäglichen, existenziellen Angst ängstigt man sich nicht vor diesem oder jenem um dieses oder jenes,25 sondern vor dem faktischen In-der-Welt-sein-können um das eigentliche In-der-Welt-sein-können.26 In der Angst existiert das Dasein als ein Widerspruch zwischen dem, was es faktisch sein kann, und dem, was es auf nicht-entfremdete Art und Weise sein könnte.27 Das eine kann nur auf Kosten des anderen sein, wobei sich nicht entscheiden läßt, welches sein soll. Im übrigen scheint diese Unentscheidbarkeit der Grund zu sein, weshalb Heidegger das Verhältnis von Wovor und Worum als ein symmetrisches auffaßt, das sich umkehren läßt.28

Aber warum spricht Heidegger von der Angst, und warum tut er das unmittelbar vor der Einführung der Sorge-Struktur? Schon einigen Paragraphen zuvor hat Heidegger drei Spielarten des Sich-Verhaltens-zum-Seienden unterschieden.29 Man kann sich besorgend zum innerweltlich Zuhandenen bzw. Vorhandenen und fürsorgend zum Mitdasein verhalten. Aber gerade deshalb muß man sich auch zu sich verhalten—eine Verhaltung, die durch ihre eigene Sichtart gekennzeichnet ist, die Durchsichtigkeit, die „als Sicht auf das Sein als solches, umwillen dessen das Dasein je ist, wie es ist … ,“30 „sich primär und im ganzen auf die Existenz bezieht … .“ (Sein und Zeit, § 32, H 146; Hervorhebungen von mir) Wie dieses letzte Zitat belegt, handelt es sich um Momente, die zumindest in dem Sinne miteinander unzertrennlich verbunden sind, daß man des einen nur fähig ist, sofern man auch der anderen zwei fähig ist.31

Nun ist das dritte Moment, das Sich-Verhalten-zu-Sich, gerade das, was oben bezeichnet wurde als die Fähigkeit, Praxen mit der jeweiligen Situation zu vermitteln. Und Heidegger scheint mir führt das Phänomen der Angst nur deshalb anzuführen, weil er meint, dieses deute darauf, daß dieses dritte Moment nur insofern möglich ist, als das eigene Seinkönnen nicht restlos in dem Man aufgeht—woraus folgt, erstens, daß das Selbst nicht bloß ein man-selbst ist, und zweitens, daß das Man kein beliebiges, konventionalistisches geteiltes Wissen um das Typische ist. Das Argument würde ungefähr so aussehen: Einerseits zerreist die Angst die Verständlichkeit, die Luther mit seinen Mitmenschen verbindet. Doch andererseits schwindet er, auch in der tiefsten existenziellen Inkohärenz, nicht als Selbst. Das bedeutet, angesichts der Abhängigkeit sowohl des Selbst_seins_ wie auch des Selbst_bewußt_seins von dem Erkennbarsein-für-andere, daß er auch für die anderen nicht gänzlich schwindet. Also haben sowohl Luther wie auch die anderen, wie schließlich auch die Begriffe, die ihrem gemeinsamen Wissen um den Durchschnitt zugrundeliegen, eine Identität, die über ihre Gegenwart hinausweist.

Diese ‘Transzendenz’ ist wohl folgendermaßen zu verstehen. Einerseits besteht das, was Heidegger das Man nennt, in einem gemeinsamen Wissen darum, was die jeweils geltenden Normen, Werte und Interessen sind. Man weiß etwa, zwei Menschen sind gleich zu behandeln, sofern es keine relevanten Unterschiede gibt. Man weiß ebenfalls, was etwa die Tapferkeit ist, zumindest in dem Sinne, daß man sich paradigmatische Beispiele zu ersinnen bzw. zu erkennen vermag. Schließlich weiß man, daß man selbst nicht leiden und andere auch nicht leiden sehen will. Andererseits besteht das Man in einem gemeinsamen Wissen darum, wie solche Verständnisse zu operationalisieren sind—fallible Kriterien, die einem die Last abnehmen, immer wieder bewußt ermitteln zu müssen, ob hier und jetzt ein relevanter Unterschied, eine tapfere Handlung oder ein ernstzunehmendes Leid vorliegt. Diese Doppelstruktur bedeutet, daß das Man die Möglichkeit immer schon eingeräumt hat, daß seine normativen, axiologischen und affektiven Verständnisse auch anders operationalisiert werden können. Diese haben eine Identität, die ihre jetzige Implementierung übersteigt.

Und diese andere Implementierung kann auch eine bessere sein. Das Phänomen der Angst soll zeigen, daß das Man in seiner Funktion scheitern kann, jene Vermittlung der konventionellen Regelbefolgung mit der jeweiligen Situation zu ermöglichen, in der sich die zeitliche Identität des Selbst erhält. Das Man ist also daran zu messen, wie gut es die Lösung dieser Aufgabe ermöglicht. Offenbar hat das Prädikat ‘gut’ hier keinen ethischen Sinn. Es geht um die Optimalität. Natürlich ist diese Optimalität an den ethischen Charakter des Mans gebunden, denn die Vermittlung der Befolgung konventioneller Regeln mit der jeweiligen Situation ist eine sittliche. Das beinhaltet aber nicht, daß das Prädikat ‘optimal’ selbst ein ethisch evaluatives wäre.

Die Angst ist also ein Indiz dafür, daß das Man und das Man-selbst auf eine Ordnung der Dinge ausgerichtet sind, in der sie das optimaler ermöglichen bzw. leisten, was sie ohnehim ermöglichen und leisten, nämlich, die Vermittlung der konventionellen Regelbefolgung mit der jeweiligen Situation. Selbstverständlich ist diese optimalere Ordnung oder gar Welt nur entwurfhaft da, d.h. als eine Möglichkeit, deren Konturen durch ihre Verwirklichung zu klären sind. In diesem Sinne ist das Sich-zu-Sich-Verhalten32 sich stets vorweg. Gerade deshalb nimmt die Angst ihren Platz unmittelbar vor der Einführung der formalen Sorgestruktur ein.

Entschlossenheit und Eigentlichkeit

Wir können jetzt die These klären, daß es zur Entschlossenheit gehört, sich Angst zuzumuten—wodurch wir verständlich machen, was die Entschlossenheit ist. Daraus enthüllt sich der Sinn der Rede von Eigentlichkeit.

Offenbar kann man sich die Angst nur insofern zumuten, als man davon ernsthaft betroffen werden kann, was ihr zugrundeliegt: die vielleicht nur vermeintliche Einsicht darin, daß man nicht so in der Welt sein kann, wie man idealerweise wäre. Durch diese vermeintliche Einsicht wird nicht nur das jeweilige Man, der Inbegriff aller Verständnisse, in welchen die Befolgung konventioneller Regeln gründet, sondern gerade auch das eigene Seinkönnen problematisiert. Schließlich gehört auch das mit zur eigenen Faktizität. Gerade deshalb ist diese vermeintliche Einsicht mit einer wesentlichen Ungewißheit behaftet. Ob es sich um Einsicht und nicht bloß Verrücktheit handelt, stellt sich erst im Laufe der Entwicklung einer Alternative heraus—einer Alternative, die die konventionelle Regelbefolgung mit den in der konkreten Situation zu berücksichtigenden Interessen besser vermittelt, so daß man eher das faktisch sein kann, was man idealerweise wäre. Zu beachten ist, daß diese Alternative nicht unbedingt bloß darin bestehen muß, daß man die Dinge anders sieht; es könnte im Prinzip eine Umordnung der Dinge selber bedeuten.33 Bei Luther war genau das der Fall: es kommt bei ihm ein neues Verständnis des Christseins zustande, dessen Ausarbeitung mit einer Umordnung der äußeren Umstände einhergeht, damit das faktische und das eigentliche Seinkönnen besser aufeinander passen.

Unter Entschlossenheit versteht also Heidegger das Freisein für diese das Selbst potenziell erschütternde Einsicht—eine Einsicht, deren man sich im vornhinein nie sicher sein kann. Daraus erklärt sich, warum er die Entschlossenheit am Phänomen des Gewissens gewinnt.34 Zur Gewissenhaftigkeit gehört nicht, daß man an der eigenen Richtigkeit stur festhält. Der Gewissenhafte vergewissert sich ständig seiner Sache, d.h., er ist stets dazu bereit, sich von den Tatsachen, mit denen er es zu tun hat, in Frage stellen zu lassen. Zum wesentlichen Bestandteil der Gewissenhaftigkeit gehört also ein selbstkritisches Moment, das stets auf die jeweilige Situation in ihrer vielleicht unwiederholbaren Einzigartigkeit gerichtet bleibt, darauf achtend, ob das Handeln dieser Situation hier und jetzt gerecht wird. Es ist also nur insofern möglich, gewissenhafter Nazi zu sein, als man über eine äußerst begrenzte moralische Erfahrung verfügt. Sofern man als Nazi die Folgen des eigenen Tuns hautnah erlebt, kann man nur weitermachen, indem man sich davon abschotttet.35 Dann aber hat man per definitionem kein Gewissen.36

Die Entschlossenheit ist also eine Offenheit für den Handlungskontext, die sich aus der bewußten Anerkennung bzw. Annahme der Ungewißheit, und nur daraus, ergibt. Gerade deshalb muß man sie wählen, man kann nicht in sie hineingeraten. Und gerade deshalb muß die Entschlossenheit „angstbereit“ sein. Das Erlebnis existenzieller Inkohärenz, aus der die Angst Luthers hervorgeht, ängstigt umso eher, als die Unvernunft dieser Inkohärenz verunsichern muß: ist es einem so aus Einsicht oder aus Verrücktheit bzw. Eigendünkel?37 Es sei an das von Sartre angeführte Beispiel des jungen Mannes erinnert, der sich entscheiden muß, ob er bei seiner Mutter bleibt oder sich dem französischen Widerstand anschließt. Man ist also im Sinne von Heidegger nur ‘ent-schlossen’, d.h. nicht bzw. nicht mehr verschlossen, sofern man dazu bereit ist, diese Art Unsicherheit auf sich zu nehmen, sich Angst eben zuzumuten.

Daß die Entschlossenheit diese sich seiner selbst stets ungewisse Offenheit ist, erklärt nun, warum sie „das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein“ (Sein und Zeit, § 60, H 296-297) ist. In der Entschlossenheit ist man sich der eigenen Ungewißheit gewiß. Angesichts dessen ist eine sich selbst zurückstellende Selbstdistanzierung bzw. Selbstskepsis geboten, die es einem allererst möglich macht, das faktische Selbstverständnis zu klären, wie auch ggf. das eigene Seinkönnen umzuarbeiten.38 Das ent-schlossene Dasein handelt aus dem Bewußtsein heraus, daß es sich, gerade weil es, wie Heidegger sagt, ein Gewissen haben will, der eigenen Faktizität gegenüber vielleicht aufspreizt, d.h., eine nicht zu rechtfertigende Autonomie in Anspruch nimmt.39 Es weiß, daß es, gerade in dem Maße, wie es gewissenhaft sein will, sich zutiefst schuldig machen kann. Das ent-schlossene Dasein handelt also so, daß an seinen Handlungen immer sichtbar bleibt, daß es in einem vorgängigen Sinn immer schon ‘schuldig’ ist, d.h. auf die Welt angewiesen ist.

In der Textstelle, von der wir ausgegangen sind, wird dieser durchaus ethisch besetzte Begriff von Entschlossenheit als koextensiv mit dem der Eigentlichkeit angesetzt. Wir können jetzt sagen, warum das so ist, und damit auch klären, gleichsam en passant, warum Heidegger die Termini ‘Eigentlichkeit’, ‘eigentliches’ und ‘eigentlich’ verwendet. Alle die von Heidegger vorgenommenen phänomenologischen Analysen dienen dazu, die These zu begründen, daß das Wesen der sogenannten selbstbewußten Subjektivität darin besteht, daß das, was an allgemeinen Regeln, Normen, Werten und erworbenem Wissen in einen Handlungskontext hineingebracht wird, mit diesem in seiner Besonderheit und Einzelheit ‘phronetisch’ vermittelt wird. Die Entschlossenheit hat sich aber als diese Fähigkeit in selbständiger, vollentwicklelter Form herausgestellt. Das Phänomen der Entschlossenheit erweist sich also am Ende als die Selbstheit im vollen Sinne des Wortes—gerade als das, was das Selbst eigentlich ist. Man beachte das hier mitschwimmende zeitliche Moment: das Dasein ist erst eigentlich selbst, sofern es einst bloß ein man-selbst war, sich aber dann als etwas gleichsam ‘Selbsthafteres’ erschlossen und sich dafür entschieden, d.h. sich ‘gewählt’ hat.40 Heideggers Begriff der Eigentlichkeit ist, wie er selbst oft sagt, vom umgangsprachlichen Gebrauch des Adverbs ‘eigentlich’ her zu verstehen.41 Dieses gibt ja zu erkennen, daß etwas nicht so ist wie es anfangs erschien.

Also, mit Eigentlichkeit meint Heidegger gar nichts Substantives, etwa eine konkrete Gestalt des menschlichen Florierens. Ferner behält er recht, wenn er behauptet, die Eigentlichkeit sei kein ethischer, sondern ein ontologischer Begriff.42 Selbstverständlich ist die Entschlossenheit ein ethisches Phänomen, sie zeichnet ja gerade das sittliche Sich-Verhalten-zum-Seienden aus. Daß aber die Entschlossenheit das Selbstsein im vollen Sinne des Wortes ausmacht, ist keine ethische, sondern eine ontologische Aussage über die Seinsverfassung des Selbsts. Der rein ontologische Charakter des Begriffs von Eigentlichkeit ist gerade seine Stärke. Denn gerade an ihm bestätigt sich, daß es Heidegger darum geht, transzendentalphilosophisch aufzuzeigen, daß Seiendes, das den Satz „Ich bin“ denken kann, erst voll da ist, sofern es aus einem ethisch geprägten Verständnis dessen handelt, wer es würdigerweise ist und idealerweise sein will.

Zweifellos wird die hier erarbeitete Interpretation reichlich Anlaß zu Einwänden geben. Hier kann ich nur auf einen recht schwerwiegenden eingehen. Es mag nämlich stören, daß hier gar nicht vom Sein-zum-Tode geredet wurde. Sicherlich kann keine Interpretation der Entschlossenheit bzw. der Angst richtig sein, die das Sein-zum-Tode nicht einmal erwähnt. Es ist jedoch formal-ontologisch zweierlei zu unterscheiden: einerseits, die Einheit von etwas in Sinne seiner zeitlich erstreckten, diachron zu verstehenden Selbigkeit; andererseits, seine Ganzheit, d.h. der Charakter von etwas als ein synchron zu verstehender Zusammenhang verschiedener Elemente.43 Im ersten Kapitel des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit geht es darum, die Ressourcen zu gewinnen, die, wie Heidegger meint, allererst eine Antwort auf die Frage nach der Ganzheit des Daseins ermöglichen: wie ist das Dasein als ein Ganzes zu verstehen—ein Ganzes der drei besonderen Gestalten der Sorge (Besorgen, Fürsorge und die Sorge um das, umdessentwillen das Dasein je ist, wie es ist)? Im zweiten Kapitel dieses Abschnitts werden die letzten Folgen aus einem schon im ersten Abschnitt gewonnenen Ergebnis gezogen: die Einheit eines jeden Selbst beruht darauf, daß es auf die Möglichkeit der Entschlossenheit als seine eigentliche Weise zu sein strukturell bezogen ist. Gerade deshalb wird in diesem zweiten Kapitel, in dem Heidegger den Begriff der Entschlossenheit als eigentliches Selbstsein44 gewinnt, gar nicht vom Tod geredet. Erst im dritten Kapitel des zweiten Abschnitts werden die Ergebnisse der beiden ersten Kapitel (das eigentliche Sein zum Tode bzw. die Entschlossenheit) im Begriff der vorlaufenden Entschlossenheit zusammengeführt—womit das Dasein sowohl in seiner (eigentlichen) Einheit wie auch in seiner (eigentlichen) Ganzheit dargestellt wird. Es war also ganz richtig, daß hier vom Tod abgesehen wurde. Allerdings beweist das auch zugleich, daß die hier aufgestellte Interpretation unvollständig ist.

Philosophische Erträge

Die im vorigen Abschnitt erzielte Interpretation verleiht der Passage, von der wir ausgegangen sind, einen relativ klaren Sinn. Ferner macht sie sichtbar, welchem Zweck die Rede von Eigentlichkeit im Aufbau und Argumentationsgang von Sein und Zeit dient. Die ersten zwei anfangs aufgestellten Adäquatheitsbedingungen dürfen also als erfüllt gelten. Wie ist es aber nun um die dritte bestellt? Dürfen wir jetzt behaupten, daß der Begriff der Eigentlichkeit einen philosophischen Wert hat, der ihn über alle vorphilosophische Erbaulichkeit erhebt? Diese Frage ist, wie ich meine, zu bejahen, sowohl auf der theoretischen wie auch auf der praktischen Ebene. Weil mir die praktische Ebene wichtiger ist, will ich den theoretischen Gewinn einfach aufzählen, um gleich zum praktischen überzugehen.

Der theoretische Gewinn

  1. Vor allem sichert diese Interpretation der Entschlossenheit als eigentliches Selbstsein den transzendentalen Status der ethischen Persönlichkeit und der Selbstachtung als Bedingungen der Möglichkeit der Einheit des Selbst.

  2. Ferner zeigt diese Interpretation, daß Sein und Zeit allenfalls nur in dem Sinne ‘ethisch-unverbindlich’ ist, als es eine Absage an die Idee einer normativen Ethik erteilt. Das mag falsch sein, ist aber nicht politisch suspekt. Ganz im Gegenteil, eine solche Absage ist höchst demokratisch: die Philosophie hat keinen priviligierten Zugang weder dazu, was die letzten Normen und Werte sind, noch dazu, wie diese zu begründen sind. Daß das Dasein entschlossen ist, ist zweifellos ein Gut.45 Die Politik soll also darauf ausgerichtet sein, ihre reale Möglichkeit zu steigern. Doch die Fundamentalontologie beweist diesen Sollenssatz nicht und sie kann es auch nicht. Daß die Entschlossenheit gut ist, und folglich gefördert werden soll, sieht jeder ein, ohne Fundamentalontologie betrieben haben zu müssen.

  3. Diese Interpretation macht klar, was Heidegger meint, wenn er behauptet, das Dasein sei kein Selbstding. Schon bei der Interpretation dessen, was Heidegger das Man nennt, wird das Dasein verstanden als etwas, das insofern das ist, was und wer es ist, als es seinesgleichen als das erkennen, was und wer es ist. Die zeitlich gedehnte Identität eines Dings hängt aber offenbar nicht von ihrem Erkanntsein durch andere Dinge ab. Das ‘relationale’ Sein des Selbsts wird stillschweigend geleugnet, wenn man mit Descartes das Dasein als res cogitans ansetzt. Es fällt auf, daß nichts Heidegger daran hindert, die These zu billigen, daß das Sein-im-durch-andere-Erkanntsein nur möglich ist als ein Sein-im-Anerkanntsein.

  4. Die Entschlossenheit, sofern sie das eigentliche Selbstsein in dem hier ausgeführten, ganz formalen Sinn ist, darf als der Wahrheitskern am Begriff des Florierens angesehen werden. Bekanntlich leidet der Begriff des Florierens darunter, daß er einen substantiv zu verstehenden Essentialismus suggeriert. Der Grund dafür liegt auf der Hand: weil man zwischen Ontologie und Anthropologie nicht klar unterscheidet, kann man dem Begriff keinen philosophisch und praktisch nützlichen Gehalt geben, der nicht gleich substantiv wäre. Die Formalität der Rede von Eigentlichkeit—also gerade das, was Heidegger den Einwand der ethischen Unverbindlichkeit eingebrockt hat—erweist sich letztendlich als vorteilhaft. In dieser Formalität drückt sich ein formal-ontologischer Essentialismus aus.

    Nun vermag Heidegger klar zwischen Ontologie und Anthropologie zu unterscheiden, weil er bei Husserl in die Schule gegangen ist. Das, was Heidegger von allen Gestalten des Neoaristotelianismus trennt, ist also die Tatsache, daß er transzendentalphilosophisch denkt. Gleich übernimmt er dieses Denken nicht direkt von Kant übernimmt, sondern erst durch Husserl vermittelt. Gerade deshalb wird bei Heidegger das, was die Neukantianer, nicht aber Kant selbst, die kopernikanische Wende nennen, ontologisch verstanden, d.h., als Einsicht darin, was Ontologie ist und wie sie ihre bisherige Leere zu überwinden hat: ontologische Bestimmungen drücken aus, wie die Dinge sein müssen, damit wir uns zu ihnen vernünftig verhalten und somit wir selber überhaupt sein können. Denn dieses Verständnis der kopernikanischen Wende ist in der Husserlschen Transcendentalphänomenologie schon vorgezeichnet. Freilich gelangt Heidegger zu dieser Einsicht nur durch Radikalisierung der Transzendentalphänomenologie: wird die kopernikanische Wende so verstanden, dann muß eine Fundamentalontologie des Daseins allen regionalen Ontologien vorangestellt werden. Damit dies nun möglich sein soll, darf man sich nicht bloß an der Frage danach orientieren, wie dieser oder jener Teilbereich des Seins aussieht, sondern an der Frage danach, was es heißt überhaupt zu sein.46

  5. Auf ähnliche Weise stellt diese Interpretation heraus, daß und inwiefern die Entschlossenheit den Wahrheitskern am Begriff von ‘Care’ bildet. Hinter dieser Interpretation steckt die Einsicht, daß Heidegger mit dem Terminus ‘Sorge’ die ganze Vernünft,47 freilich unter expliziter Anerkennung der konstitutiven Rolle der Affektivität, erfassen will. Dagegen wird ‘Care’ eher als die affektive Seite der menschlichen Vernunft verstanden, eine Seite, deren konstitutive Rolle für die Moralphilosophie stets übersehen und vernachlässigt wurde.

    Daß das so ist, zeigt sich zum einen daran, wie objektivierend die Rede von ‘Care’ wirkt, sobald man sie auf das Subjekt selbst anwendet, etwa in solchen Wendungen wie ‘Care for Self’—was Heidegger, ganz im Sinne seines ganzheitlichen Verständnis dessen, was die Sorge ist, als eine Tautologie48 bezeichnet. Zum anderen zeigt sich das aber auch daran, daß, sofern man den Begriff von ‘Care’ nicht von seinen vorphilosophischen Wurzeln entfremdet, d.h. ihn in seiner Bezogenheit auf andere beläßt, man dazu neigt, ihn mit einem gefühlsmäßigen Betroffensein gleichzusetzen.

    Und weil die Sorge die Rationalität in ihrer Ganzheit umfaßt, entgeht sie sowohl der Gefahr einer narzissistischen Ästhetisierung, die in der Rede von ‘Care for Self’ liegt, wie auch einer Überbetonung des Affektiven, die es der Rede von ‘Care’ in dem auf andere bezogenen Sinn erschwert, Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu ziehen. Diese Vorteile übertragen sich auf den Begriff der Entschlossenheit, sofern die Entschlossenheit die eigentliche Selbstheit und die eigentliche Rationalität ist.

  6. Indem sie als das eigentliche Selbstsein herausgestellt wird, erweist sich die Entschlossenheit als die voll entfaltete, mit Hegel gesprochen, die zu sich selbst gekommene Vernünftigkeit. Die Rationalität erschöpft sich nicht in der Berechnung dessen, wie man die eigenen Präferenzen am klügsten verwirklicht. Sofern man dazu fähig ist, selbstbewußt Strategien zur Präferenzverwirklichung zu errechnen, ist man immer schon auf die Aufgabe ausgerichtet, Normen, Werte und Interessen unter Bewahrung der Selbstachtung zum reflexiven Gleichgewicht zu bringen. Deshalb ist man zunächst und zumeist durchaus bereit, das Richtige und Gute zu tun, vorausgesetzt, daß das nicht zu einem zu hohen persönlichen Preis erkauft werden muß. Ist man das nicht, wie etwa Ted Bundy, so setzt die eigene Existenz als kohärentes Selbst die Existenz derer voraus, die auf jeden Fall dazu bereit sind. Das ist keine bloß evolutionstheoretische, sondern eine transzendentalphilosophische Notwendigkeit.

  7. Im allgemeinen scheint mir Heideggers Ansatz, gerade weil er zwischen dem Formalen und dem Materialen, dem Existenzialen und dem Existenziellen, wie auch dem Ontologischen und dem Ontischen klar unterscheidet, die Gefahren zu vermeiden, die in Termini wie ‘authenticity’ ‘resoluteness’ und ‘wholeheartedness’ stecken.

    Die Übersetzung des Terminus ‘Eigentlichkeit’ als ‘authenticity’ ist sehr schlecht. Schlimmsten Falls legt sie den Gedanken nah, das eigentliche Dasein stricke seine Socken lieber selbst als bei Rewe zu kaufen.49

    Die Übersetztung des Terminus ‘Entschlossenheit’ als ‘resoluteness’ ist auch irreführend. Aus der hier aufgestellten Interpretation der Entschlossenheit ergibt sich, daß dieser Terminus nicht primär in seinem vorphilosophischen Bedeutung zu nehmen, sondern aus den Bedeutungen seiner einzelnen Bestandteile zu verstehen ist. Die Ent-schlossenheit ist das Überwundenhaben der Verschlossenheit. Sie hat nichts damit zu tun, daß man sich mit den Kameraden im Schützengraben solidarisiert, um dort den Sinn des Lebens zu finden. Sie hat auch nichts damit zu tun, daß man alte Bräuche museal pflegt und bewahrt. Sie ist aktiv und passiv zugleich, geht also allem Vordringen in die Welt voraus, wie auch allem Zurückziehen aus ihr.50 Gerade deshalb, weil sie das Überwundenhaben der Verschlossenheit ist, macht sie es der Entschlossenheit im herkömmlichen Sinne allererst möglich, gewissenhaft zu sein.

    Schließlich klingt beim Terminus ‘wholeheartedness’, sofern er in seiner vorphilosophischen Bedeutung als das Voll-dabei-Sein belassen wird, ein Unterton von Enthusiasmus an, der deshalb zu beanstanden ist, weil manchmal Zögern und Zurückhaltung geboten sind.

Der praktische Gewinn

In Sein und Zeit geht es durchaus darum, eine ‘Theorie’ der Rationalität bzw. des rationalen Subjekts aufzustellen—eine ‘Theorie’, die einerseits alle spieltheoretischen Auffassungen Hobbescher Provenienz zurückweist, sich aber andererseits nicht auf den Vernunftpathos einläßt, der die Rede von Vernunft bei Kant, Hegel und Husserl kennzeichnet.51 Die Sorge ist die Vernunft, freilich die wohlverstandene und sich wohlverstehende, die sich eben nicht vergöttern läßt. Gerade deshalb kann diese Auffassung der Vernunft für eine Umweltpolitik fruchtbar gemacht werden, die weder durch den Reformismus der Rede von nachhaltiger Entwicklung noch durch die Schein-Radikalität der Berufung auf angeblich umweltfreundlichere alternative Lebenstilen geblendet ist.

Der Grund, weshalb sich die Sorge so einspannen läßt, ist klar: sie geht von der wesentlichen Endlichkeit der Vernunft aus, einer Endlichkeit, die sich aus der ontologischen Begrenztheit des Erkennens ergibt. Luther ist, wie wir gesehen haben, sich dessen radikal ungewiß, ob das, was er tut, dem Willen Gottes entspricht. Es muß nun m.E. eine ähnlich radikale, Angst auslösende Ungewißheit entstehen, wenn der Einzelne in einer unnachhaltigen Welt nachhaltig zu leben versucht. Das läßt sich vielfach empirisch belegen, etwa an dem Eingrenzungsproblem der Lebenszyklusanalyse (LCA), mit der man einst hoffte, die Umweltfreundlichkeit von Produkten und Produktionsprozessen zu berechnen; an dem unaufhörlichen Expertenstreit darüber, ob die Atomkraft wirklich so schlimm ist, ob sich die Erde tatsächlich erwärmt, usw.; wie auch an der relativen Belanglosigkeit vieler Recycling-Initiativen, sofern sich ihre Folgen eindeutig feststellen lassen.52 Für einen, dessen Seinkönnen die Erhaltung der Natur voraussetzt, einen also, der sich davor schämen muß, daß es in absehbarer Zeit keine wilden Eisbären gibt, ist ein sinnvolles Abstimmen von Normen, Werten und Interessen, nicht zuletzt den eigenen, aufeinander in genau dem Sinn unmöglich, in dem es Luther war.53

Nun hat man in der breitgefächerten Diskussion darum, wie man am besten für die Nachhaltigkeit sorgt, oft von dem sogenannten ‘Vorsorge-’ oder, besser, dem ‘Vorsichtsprinzip’54 gesprochen. Um die Unnachhaltigkeit zu bewältigen, wie auch im allgemeinen unerwünschte Folgen rechtzeitig abfangen zu können, sei die Sozial-, Konjunktur- und Technologiepolitik nach dem Prinzip zu gestalten, daß die Lösungen besser sind, die weniger komplex und mit bereits bestehenden Systemen besser zu integrieren sind. Im Grunde läuft dieses Prinzip auf einen simplen Gedanken hinaus: in allen Dingen keine Hochmut der Vernunft aufkommen lassen. Offenbar steckt in diesem Prinzip die Anerkennung der Endlichkeit der Vernunft, und damit auch jener Zurückhaltung und Selbstskepsis, die die Entschlossenheit kennzeichnet und das ent-schlossene Dasein davor hütet, sich selbst zu übernehmen. Also dadurch, daß die Entschlossenheit als das ontologisch, nicht ethisch verstandene eigentliche Selbstsein herausgestellt wird, erfährt das ‘Vorsichtsprinzip’ eine Klärung sozusagen „aus dem Wesen der Vernunft“, die seinen Einsatz als Leitfaden für die Entwicklung sozial-, technisch-, wirtschafts- und umweltpolitischer Strategien rechtfertigt.

Es wird aber bei der Diskussion darüber, wie zur Sicherung der Nachhaltigkeit die wirtschaftliche, soziale und technologische Entwicklung gesteuert werden soll, etwas ganz Wichtiges übersehen. Die spätmoderne kapitalistische Gesellschaft wird häufig durch einen Widerstreit zwischen kürzfristiger und langfristiger Rationalität gekennzeichnet, der es einem erschwert, Normen, Werte und Interessen aufeinander abzustimmen. Man würde gern mit dem öffentlichen Verkehr fahren, hat aber so viel so schnell zu tun, daß man doch leider mit dem Auto fahren muß. Kompromisse dieser Art summmieren sich zu einer kollektiven Unnachhaltigkeit, werden aber um so nötiger, je mehr die Komplexitität und die Starre der Systemkoppelung wachsen.55

Nun vollzieht sich die Vermittlung der konventionellen Regelbefolgung mit der jeweiligen Situation eigentlich, d.h. auf selbstbewußte, sich selbst verantwortliche Weise, als die Entschlossenheit. In dem Maße also, wie der Konsumkapitalismus die kürzfristige und langfristige Rationalität in Gegensatz zueinander bringt, nimmt er dem Dasein die Möglichkeit, ent-schlossen und somit auch es selbst eigentlich zu sein.56 Das legt nahe, daß hinter dem sogenannten ‘Vorsichtsprinzip’ ein noch tieferer Imperativ liegt: richte alles so ein, daß soweit wie möglich jedem die Möglichkeit der Entschlossenheit erhalten bleibt. Das ist keine leere Floskel, denn aus diesem Imperativ ergeben sich konkrete Forderungen nach weniger Regeln, weniger Standardisierung, sanfteren, kontextangepaßten Technologien, und mehr Nischen, die nicht ohne weiteres von der öffentlichen Transparenzsucht durchleuchtet werden können.

Kurzum, es geht um die Minderung von Systemkomplexität und Koppelungsstarre, was allerdings nur durch Regeln zu erreichen ist, etwa Regeln, die den freien Markt bändigen. Das sind jedoch keine Regeln, die aus jenem technokratischen Geist hervorgehen, der sich einbildet, durch juristische Klugheit sei alles mit allem verträglich zu machen, etwa ein familiengerechtes Sozialleben und eine rund um die Uhr laufende Wirtschaft, freie Verfügbarkeit der Arbeitskräfte und ein nicht entfremdetes Arbeitsleben, usw. Dieser Geist führt nur zu Regeln, deren gewissenhafte Befolgung so überlastet, daß sich alle letztlich stillschweigend darauf einigen, so zu tun, als würde man sie gewissenhaft einhalten.57 Vielmehr geht es darum, die Einsicht rechtlich umzusetzen, daß man nicht alles mit allem verträglich machen kann, daß man sich also manchmal für eine gewisse ‘Ineffizienz’, ein Nicht-alles-tunkönnen entscheiden muß.

Und jetzt erklärt sich etwas, das, recht verstanden, überraschen müßte. Instinktiv fühlen sich wenigstens die radikaleren Umweltaktivisten mit Bewegungen verbunden, die nicht unbedingt etwas mit Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu tun haben: Schutz der Urvölker, Denkmalschutz, die Wiederbelebung in Vergessenheit geratener Technologien, die Bewahrung örtlicher Dialekte, Trachten, Tanzarten und Speisen, nicht zuletzt die Rückkehr zur langsamen, kollektiven Zubereitung und Verzehrung örtlich produzierter Lebensmitteln. Keine von diesen Bewegungen muß unbedingt umweltfreundlich sein, was sich daran zeigt, wie hartknäckig Urvölker manchmal darauf bestehen, selbst bedrohte Tierarten weiterhin jagen zu dürfen. Was ist der tiefe Grund dieser Verbundenheit? Offenbar handelt es sich um Lebensformen, die wenigstens dem Anschein nach eine gewisse Begrenztheit und Bescheidenheit, und damit eine gewisse Übersichtlichkeit, Langsamkeit und Gemeinschaftlichkeit aufweisen. Das sind Eigenschaften, die die Entschlossenheit und Eigentlichkeit fördern.

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Notes

  1. Grundprobleme der Phänomenologie, § 15 b), H 225-227. Hier fragt Heidegger explizit, „ … In welcher Weise ist das Selbst gegeben? …“ Und er antwortet, „Wir sagen, das Dasein bedarf nicht erst einer Rückwendung zu sich selbst, gleich als stünde es, sich selbst hinter dem eigenen Rücken haltend, zunächst starr den Dingen zugewandt vor diesen, sondern nirgends anders als in den Dingen selbst, und zwar in denen, die das Dasein alltäglich umstehen, findet es sich selbst. Es findet sich primär und ständig in den Dingen, weil es, sie betreuend, von ihnen bedrängt, immer irgendwie in den Dingen ruht. Jeder ist das, was er betreibt und besorgt. Alltäglich versteht man sich und seine Existenz aus dem, was man betreibt und besorgt. Man versteht sich selbst von da her, weil das Dasein sich zunächst in den Dingen findet. Es bedarf nicht einer eigenen Beobachtung und einer Spionage gegenüber dem Ich, um das Selbst zu haben, sondern in unmittelbarem leidenschaftlichen Ausgegebensein an die Welt selbst scheint das eigene Selbst des Daseins aus den Dingen wider.“

  2. Grundprobleme der Phänomenologie, § 15 b), H 227.

  3. Wie aus der ersten Hälfte des Titels vom vierten Kapitel hervorgeht: “Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein … .“

  4. Vgl. Lewis 1974 und Schiffer 1972. Allerdings muß man dieses Phänomen nicht so darstellen, wie Lewis und Schiffer es tun, nämlich, als unendliche Ketten einzelner Erkenntniszustände—vgl. Christensen 1997b.

  5. Die Pointe dieses Beispiels hat nichts mit dem ethischen Charakter des Beispiels zu tun, d.h., mit der Tatsache, daß ich meinen Vortrag aus ethischen Gründen unterbrechen soll. Ein anderes Beispiel, dem dieser ethische Charakter fehlte, hätte genommen werden können: man stelle sich vor, der Hörsaal würde infolge eines Erdstosses zu wackeln anfangen und einzustürzen drohen, während ich einfach weiterredete, als ob gar nichts passiert wäre.

  6. Wodurch ich meinen Beitrag dazu leiste, daß die Totalität dieser Praxen selbst eine kohärente Einheit bildet, eine verständliche Gestalt des objectiven Geistes. Die heute beliebte aber konturlose Rede von sozialen Praxen, Sprachspielen, der linguistischen Gemeinschaft, zweiter Natur und dgl. verschleiert die Frage nach der Totalität dieser Phänomene und deren Einheit.

  7. M.a.W., aus einem gewissen Entwurf dessen, wie es, wie Heidegger gelegentlich sagt, zu sein hat—siehe beispielsweise Sein und Zeit, § 4, H 12; § 29, H 135; § 57, H 276; und § 58, H 284.

  8. Man könnte vielleicht sagen, daß der strukturelle Bezug des Daseins auf das eigene Seinkönnen eine ‘Vorstellung vom guten Leben’ in dem Sinn ist, daß das eigene Seinkönnen einen Zustand darstellt, in dem sich die Erfüllung der von mir anerkannten Normen und Werte mit der Verwirklichung meiner Interessen verträgt. Dieser Zustand ist aber nicht deshalb für mich gut, weil ich etwa Mensch bin. Mein eigenes Seinkönnen ist ein ‘Leben’, das für mich gut ist, als das Seiende, das ich selbst bin.

  9. Vgl. van Buren 1994.

  10. Ein anderes wäre Augustinus.

  11. Wenigstens wenn man Luthers autobiographische Äußerungen wortwörtlich nimmt und sie nicht, wie es Volker Leppin tut, als nachträgliche Überdramatisierungen weginterpretiert—vgl. Leppin 2006.

  12. Dies ist, so berichtet Luther in der Vorrede zum Bd. 1 der Wittenberger Gesamtausgabe seiner Lateinischen Schriften, der wahre Sinn der Stelle 1:17 im Römerbrief—vgl. Beutel 2006, S.60-61.

  13. So lautet die einschlägige Stelle aus der Luther-Bibel: “Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht (Hab 2,4): «Der Gerechte wird aus dem Glauben leben.»” In der umgangsprachlichen Catholic Jerusulem Bible (Popular Edition), mit dem die katholische Kirche einer englischsprachigen Laie eine “easy-to-read” Übersetzung in die Hand geben wollte, wird diese Passage wie folgt wiedergegeben: “ … since this is what reveals the justice of God to us: it shows how faith leads to faith, or as scripture says: The upright man finds life through faith.” (S.197) In der Biblia Vulgata liest sich diese Stelle wie folgt, “Justitia enim Dei in eo revelatur ex fide in fidem: sicut scriptum est: Justus autem ex fide vivit.” Auffallend ist, daß sich die lateinische Übersetzung nicht wesentlich unterscheidet von Luthers. Luther geht es also um die Auslegung, nicht um die Übersetzung, dieser Stelle.

  14. Nur durch Untreue Gott gegenüber könnte man das Heil verwirken, das man vom Ihm immer schon empfangen hat.

  15. Gerade deshalb konnte Luther von seinen vorherigen Bemühungen um das Seelenheil sagen, er hätte “lost hold of Christ the Savior and Comforter and made of him a stock-master and hangman over my poor soul.” (Kittelson 1986, p.79)

  16. Auch wenn Luther selbst den Zustand, in dem er sich befand, niemals klar von der Furcht unterschieden hat. Gerade weil Luther diese Unterscheidung nie gemacht hat, ist es Heidegger wichtig, in § 40 darauf hinzuweisen, daß sowohl Augustinus als auch Luther es versäumt haben, zwischen Angst und Furcht zu unterscheiden.

  17. Es wäre verkehrt, dieses Verhalten von Luther als ‘kopflos’ zu bezeichnen, was, wenn dies zuträfe, diese Interpretation der Angst in Frage stellen würde, denn nach Heidegger ist die Angst nicht ‘kopflos’—vgl. „Was ist Metaphysik?“, in Heidegger 1976, H 111. Ganz im Gegenteil, Luther ist gar nicht außer sich geraten, als würde er gar nicht denken. Ja, in einem gewissen Sinn denkt er gerade zu viel. Deshalb hat ihm sein Freund und Vorgesetzter Johann von Staupitz die Lehraufgaben gegeben, die ihm letztendlich zum Durchbruch verhalfen. Die Lehre sollte Luther von sich selbst ablenken und ihn—ganz im Sinne dessen, was Heidegger die Flucht in das Man nennt—beruhigen. Es bleibt nur noch darauf hinzuweisen, daß die Angst Luthers, so sehr sie sich gelegentlich in Wutausbrüchen manifestierte, von einer eigentümlichen, weil stets beunruhigten Ruhe durchzogen war—vgl. „Was ist Metaphysik?“, in Heidegger 1976, H 111.

  18. Gerade wenn man die Angst so versteht, nämlich, als die Antizipation einer solchen existenziellen Inkohärenz, kann man erklären, warum Heidegger später, in der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik (Freiburg WS 29/30), der Langeweile einen ähnlichen Status als Grundbefindlichkeit einräumt wie der Angst. Denn die Langeweile, wenigstens in ihrer extremsten Form, besteht gerade darin, bei allen möglichen Handlungen H weder H tun noch H nicht tun zu wollen. Sie weist also eine strukturell ähnliche Inkohärenz auf.

  19. „Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. Dies jedoch nicht im Sinne eines bloßen Verschwindens, sondern in ihrem Wegrücken als solchem kehren sie sich uns zu.“ („Was ist Metaphysik?“, in Heidegger 1976, H 111-112)

  20. Es sei an die berümhte Luther-Studie von Erik Erikson erinnert, der eine unterdrückte Homosexualität in der selbstzerstörischen Besessenheit Luthers mit der Sündenlosigkeit fand. Allerdings neigte Erikson dazu, unterdrückte Homosexualität überall aufzuspüren, z.B., in dem gestörten Verhältnis Beethovens zu seinem adoptierten Neffen Karl.

  21. Vielleicht könnte man auf die Herausforderung Luthers antworten, das eigentliche Vertrauen auf Gott bestehe in dem Vertrauen auf sich selbst und seine Welt, gerade weil sie von Gott erschaffen sind.

  22. Dadurch, daß sie das Verfallen an das Man als etwas ceteris paribus durchaus Vernünftiges herausstellt, entgeht diese Interpretation dem Schicksal anderer Interpretationen, etwa der durch Dreyfus geprägten. Diese sind nicht in der Lage, die Angst so zu interpretieren, daß sie das Verfallen an das Man als eine ceteris paribus vernünftige Antwort auf die Angst herausstellen. Deshalb sind sie dazu gezwungen, das Verfallen als eine kontingente, nur psychisch zu verstehende Tendez, die Heidegger aus elitärer Abneigung gegen die Massengesellschaft zu Unrecht in die Fundamentalontologie hineinschmuggelt.

  23. Ob es aber richtig ist, Flucht zu ergreifen, hängt davon ab, ob es eine Lösung auf das die Angst treibende Problem gibt, was sich erst nachträglich herausstellen kann.

  24. Könnte man dies den existenzialen Tod nennen?

  25. Vgl. „Was ist Metaphysik?“, in Heidegger 1976, H 111.

  26. Ist dies nicht, so wird man fragen, zu bestimmt, um als das gelten zu können, wovor bzw. worum man sich bei der existenziellen Angst ängstigt? Sagt doch Heidegger, daß „(d)as Wovor der Angst … völlig unbestimmt [ist].“ (Sein und Zeit, § 40, H 186; vgl. auch „Was ist Metaphysik?“, in Heidegger 1976, H 111) Aber mit dieser Unbestimmtheit meint Heidegger gerade nicht, daß das Wovor bzw. das Worum der Angst epistemisch bzw. ontologisch vage wäre, sondern nur, daß es kein bestimmtes Seiendes, kein Dieses oder Jenes, also kein Singuläres ist. „Die Unbestimmtheit dessen, wovor und worum wir uns ängstigen, ist kein bloßes Fehlen der Bestimmtheit, sondern die wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit.“ („Was ist Metaphysik?“, in Heidegger 1976, H 111) M.a.W., es ist ein völlig Allgemeines bzw. Ganzheitliches, wovor und worum wir uns ängstigen.

  27. Gelegentlich bezeichnet Heidegger das letztere als das, was das Dasein eigentlich zu sein hat—vgl. Sein und Zeit, § 29, H 135, § 57, H 276, und § 58, H 284.

  28. „Das, worum die Angst sich ängstet, enthüllt sich als das, wovor sie sich ängstet: das In-der-Welt-sein.“ (Sein und Zeit, § 40, H 188)

  29. Pace Dreyfus und Brandom wird durch den Begriff des Sich-Verhaltens-zum-Seienden der Husserlsche Begriff der Intentionalität und des intentionalen Erlebnisses nicht abgelöst, sondern in ihm begründet.

  30. Siehe auch Sein und Zeit, § 41, H 191 und H 193.

  31. Vermutlich meint Heidegger, man ist immer besorgend, fürsorgend und sich zu sich verhaltend zugleich, wobei je nach den Umständen dieser oder jener Aspekt gleichsam hervorsticht. Wir begegnen hier dem Problem, wie das Dasein ein Ganzes sein kann—dem Problem also, auf das die Eruierung des Seins zum Tode antworten soll.

  32. Wie eigentlich auch das es ermöglichende Man?

  33. „Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie das auch—wo sie doch als eigentliche Erschlossenheit nichts anderes als In-der-Welt-sein eigentlich ist. Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen.“ (Sein und Zeit, § 60, H 298) Offenbar meint Heidegger mit seiner Rede vom freischwebenden Ich nicht das cartesianische res cogitans, denn das haben wir schon längst hinter uns gebracht; Heidegger meint ein Ich, das nur mit sich selbst im populär-existentialistischen Sinn befaßt ist.

  34. Was nicht beinhaltet, daß die Entschlossenheit nur solche Handlungen auszeichnet, die aus moralischer Pflicht vollzogen werden. Tatsächlich geht es Heidegger um eine Beschaffenheit der Gewissenhaftigkeit, die ja immer sittlich, nicht aber immer moralisch im strikten Sinne sein muß.

  35. Die Nazis wußten das, deshalb hat Himmer seine berüchtigte Rede „Jeder kennt einen guten Juden“ gehalten.

  36. Der gewissenhafte Nazi stellt ein tiefes sozial-politisches Problem dar, aber nur insofern ein philosophisches, als man von einem psychologisierten Modell des Gewissens ausgeht, als wäre es ein bloßes ernsthaft Überzeugtsein.

  37. Es ist bezeichnend, daß Heidegger die Möglichkeit einräumt, daß “… die Angst »physiologisch« bedingt …“ ist—vgl. Sein und Zeit, § 40, H 190.

  38. Hier findet sich die Dimension des Sichselbstwählens, auf die ich hier nicht eingehen kann—vgl. Sein und Zeit, § 58, H 287f.

  39. Das Dasein, als das Seiende, das „ich bin“ denken kann, ist also der Gefahr des Sichaufspreizenwollens immer schon ausgesetzt. Dies ist gleichsam die fundamentalontologische Ursünde. Siehe die (auch Vorsicht mahnende) Anmerkung zu H 306 in § 62 von Sein und Zeit.

  40. Man beachte, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann, daß diese zeitliche Abfolge sowohl auf der ontologischen Ebene der Daseinsanalyse wie auch auf der ontischen Ebene vorkommt.

  41. Wie Heidegger selbst sagt—vgl. Grundprobleme der Phänomenologie, § 15 b), H 225 und H 228.

  42. Vgl. beispielsweise Sein und Zeit, § 27, H 128.

  43. Hier schimmert das Erbe Husserls durch, inbes. dessen formal-ontologische Ausführungen zur Mereologie in der Dritten Logischen Untersuchung. Also gerade die Stellen in Sein und Zeit, die sich am ehesten popular-existenzialistisch mißdeuten lassen, liefern den Beleg dafür, wie grundsätzlich verkehrt es ist, Heidegger ohne Rückgriff auf Husserl lesen zu wollen. Gerade dieser Rückgriff bewahrt vor der populär-existenzialistischen Trivialisierung.

  44. Vgl. Sein und Zeit, § 60, insbes. H 297.

  45. Sie kann aber nicht gefordert werden bzw. den Gehalt eines moralisch verstandenen Sollensatzes bilden, da sie sich genauso wenig gebieten läßt wie die sittliche Gesinnung.

  46. Deshalb ist „die Frage nach dem Sein des Seienden“ die _Leit_frage der Philosophie, die „sich von alters her in den verschiedensten Gestalten … durchhielt.“ („Brief an Pater William J. Richardson“, in Heidegger 2006, H 147-148)

  47. Vgl. Sein und Zeit, § 60, H 300.

  48. Siehe Sein und Zeit, § 41, H 193, und § 64, H 318. Im übrigen habe ich den Terminus ‘Selbstsorge’ bei Natorp entdeckt, und zwar in seiner sehr interessanten Kritik daran, wie Dilthey Luther ideen- und kulturgeschichtlich interpretiert—siehe Bd. 2, Natorp 1918. Heidegger, der ja die Ansichten beider Denker sicherlich kannte, würde sich sicherlich der Kritik Natorps an Dilthey anschließen. Es kann aber sein, daß er in dem ‘Sorge’-Kapitel eine Kritik an Natorp richtet—was einen Einfluß der Theologie Luthers auf den Sorge-Begriff weiter bestätigt.

  49. Auffallend ist, wie sehr sich Dreyfus zu Erbaulichkeiten genötigt sieht, wenn er sich der Frage zuwendet, was Heidegger unter Entschlossenheit, Eigentlichkeit und dgl. versteht. Als markantestes Beispiel dafür dürfte Dreyfus 1980 gelten. Das hängt mit den Grenzen seiner pragmatistischen und konventionalistischen Interpretation des In-der-Welt-seins zusammen; diese läßt keinen Raum für eine Interpretation von Eigentlichkeit, die philosophisch mehr zu sagen wüßte, als daß das eigentliche Dasein einsieht, es sei „interpretation all the way down“.

  50. Heidegger weist den Einwand, die Entschlossenheit, und damit auch die Eigentlichkeit des Selbstseins, würden einen Rückzug aus dem Man und der Welt beinhalten, entschieden zurück—siehe Sein und Zeit, § 60, H 298 und Anmerkung xxxiv.

  51. In der Frage nach dem Sein des Daseins kehrt offensichtlich jene Frage wieder, allerdings von ihrem ursprünglichen Anthropologismus befreit, in der einst Kant die Pointe der Transzendentalphilosophie zusammengefaßt sah: „Was ist der Mensch?“ Heidegger würde sicherlich sagen, daß sowohl die Auffassung der Vernunft als strategisches Denken wie auch die kantischen und post-kantischen Auffassungen ihren Grund in der Cartesischen Ontologie der Welt und dem „Subjekt-Objekt“ Model des Selbsts haben, das diese Ontologie nach sich zieht. M.E. behält er letztendlich darin recht, und zwar deshalb, weil diese Ontologie dazu zwingt, den hermeneutischen Charakter des Selbstseins zu leugnen, so daß nur noch das Hantieren mit Gründen als die Leistung zurückbleibt, die das Selbst als Selbst auszeichnet. Daraus erklärt sich die neuzeitliche Einschränkung des Begrifflichen auf das Apophantische (das Urteilsmäßige) und das Diskursive. Allerdings sind bei Husserl Ansätze zur Überwindung dieser Einschränkung auf das Apophantische vorhanden, insbesondere in seiner Lehre von der Horizontstruktur der Wahrnehmung.

  52. Allerdings scheint eines eindeutig geboten zu sein: man fliege nicht. Doch dadurch entsagt man nicht nur vielen sinnvollen Berufstätigkeiten, sondern auch der Möglichkeit, im Kampf um die Nachhaltigkeit mehr als Fußsoldat zu sein.

  53. Auffallend ist, daß bei einer derartigen existenziellen Ungewißheit die Grenze zwischen innerer und äußerer Gewißheit verschwimmt: die Ungewißheit besteht letztendlich darin, daß man auf sich und die eigene Urteilskraft allein gestellt ist; angesichts der Ungewißheit hinsichtlich der Objektivität muß man sich um so eher auf die innere Gewißheit verlassen, die ja immer der Gefahr eines lähmenden Selbstzweifels prinzipiell ausgesetzt ist.

  54. D.h. das ‘precautionary principle’, das m.E. falsch übersetzt wird, wenn man es, wie ich es in meinem Online-Wörterbuch übersetzt gefunden habe, als ‘Vorsorgeprinzip’ wiedergibt. Vgl. http://www.dict.cc/?s=precautionary.

  55. Das hängt mit dem Genie des Kapitalismus zusammen—der Tatsache, nämlich, daß in ihm der Konsum zu einem systemerhaltenden Moment der Produktion gediehen ist. Im übrigen ist in jüngster Zeit der Gegensatz zwischen kürzfristiger und langfristiger Rationalität nur noch stärker geworden, weil man im Namen von Flexibilität, freier Wahl und Selbstverantwortung die Lebensrhythmen immer mehr aufgesplittert hat: immer mehr Individuen haben unterschiedliche Arbeitsstunden, Ruhetage und Ferienwochen, gehen auf verschiedene Schulen, usw., und wir müssen ja alle jetzt Aufgaben erledigen, die einst staatlichen und kommunalen Behörden zufielen. Hier liegt der wahre Grund dafür, daß so viele meinen, zeitarm zu sein—vgl. Shove 2003. Denn durch diese Aufsplitterung wird die Handlungskoordination immer komplizierter und muß entsprechend bewußter vollzogen werden.

  56. Die Vernunft wird tendenziell zur Unvernunft, die Unvernunft zur Vernunft.

  57. Das ist ein Zustand, in dem es gemeinsam gewußt ist, daß jeder seinerseits seine Leistung nur vorgaukelt, die anderen aber ihrerseits das nicht beim Namen nennen wollen, weil sie wissen, daß man nur so zurecht kommt.