Zum Zusammenhang von Mensch, Natur und Entfremdung in Marx´ Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten

Abstract

Im Rahmen meiner Bemühungen um eine Rehabilitierung des Marx’schen Entfremdungsbegriffs rekonstruiere ich eine These, die Marx offensichtlich als wesentlich für diesen Begriff betrachtet, die aber ausgesprochen rätselhaft ist: dass der Mensch ein „Gattungswesen“ ist, das als solches die eigene Gattung und die Gattungen der übrigen Dinge zum Gegenstand macht. Zu diesem Zweck ziehe ich den formalen Begriff der „Existenz“ bei Heidegger heran. Auf der Basis dieser Interpretation versuche ich plausibel zu machen, dass, wenn man Gattungswesen und Natur so versteht, man verständlich machen kann, wie sich der Arbeiter seinem Wesen und damit auch sich selbst durch die kapitalistische Lohnarbeit entfremdet. Dann erläutere ich den Naturbegriff bei Marx und zeige u.a., dass das, was bei Marx „Natur“ heißt, nicht das ist, was Descartes und der heutige Naturalismus unter „Natur“ verstehen.

Dieses Paper bildet den Text eines Vortrags, den ich am 14.ten Juli, 2016, im Kolloquium des Philosophischen Instituts der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule gehalten habe.

Einleitung

In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von 1844 behauptet Karl Marx, dass die kapitalistische Lohnarbeit in vierfacher Hinsicht entfremdet ist. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen entfremdet sich der Arbeiter zugleich:

  1. dem Gegenstand seiner Tätigkeit, d.h. dem Arbeitsprodukt (S.511-514);

  2. seiner Tätigkeit selbst, d.h., dem Arbeitsakt (S.514-515);

  3. seinem Wesen als Menschen, folglich auch sich selbst als dem individuellem Arbeiter, der er ist (S.515-517);

  4. dem anderen Menschen. (S.517-518)

Offenbar sollen alle vier Dimensionen der Entfremdung eine Einheit bilden, d.h., sich ergeben als Aspekte eines einheitlichen, folglich einheitlich zu explizierenden Phänomens, des Entfremdetseins des kapitalistischen Lohnarbeiters. Aber was ist dieses Phänomen? Wie sind diese vier Dimensionen, und zwar, in ihrer Einheit, zu verstehen? Marx gibt keine richtige Antwort auf diese Frage, sondern nur ein Paar suggestive, aber schwer auszulegende Hinweise. Wie es mir jedoch scheint, ist es durchaus möglich, den Begriff der entfremdeten Arbeit so zu rekonstruieren, dass man zu einer Interpretation gelangt, die nicht nur Marx plausibel zugeschrieben werden kann, sondern auch heute gesellschaftskritisch brauchbar ist.

Offensichtlich kann ich das hier nicht unternehmen. Ich werde mich also darauf beschränken, einige Grundlagen zur einer solchen Rekonstruktion zu erarbeiten: vor allem, den frappierenden Begriff des Gattungswesens, dann aber auch, etwas beiläufig, was Entfremdung in der dritten und wichtigsten von Marx unterschiedenen Hinsicht besagt, und schliesslich, was Marx unter Natur versteht.

I. Der Mensch als Gattungswesen

Entfremdung in der dritten von Marx unterschiedenen Hinsicht ist eine Entfremdung, zunächst dem Wesen des Arbeiters als Menschen, dann aber auch sich selbst gegenüber. Was aber ist nach Marx das Wesen des Menschen? In dem Teil der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte, wo Marx die Hegelsche Philosophie kritisiert, schreibt er,

(D)er Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen; d. h. für sich selbst seiendes Wesen, darum Gattungswesen, als welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen muß. (ÖPM, MEW 40, S.579)

Offenbar behauptet Marx hier zuerst, dass das, was den Menschen als Menschen auszeichnet, Selbstbewusstein ist. Als für sich selbst seiendes Wesen ist der Mensch dazu fähig, in der ersten Person zu denken. Aber gerade deshalb soll der Mensch ein Gattungswesen sein. Damit stossen wir auf den merkwürdigen Begriff eines Gattungswesens, den Marx zwar von Feuerbach übernommen hat, aber auch anders zu verwenden scheint. Was ist ein Gattungswesen?

Auffallend ist die Bestimmung, dass der Mensch, weil er ein Gattungswesen ist, sich als ein solches betätigen, d.h. verhalten muss. Das legt nah, dass ein Gattungswesen nicht bloss in der Zeit besteht, etwa wie ein Stein, sondern sich auf dynamische Weise zeitlich erhält: Der Mensch ist ein Gattungswesen, sofern er sich als Gattungswesen verhält. Ferner, dieses Sich Verhalten als Gattungswesen ist ein Sich-Betätigen und -Bestätigen. Es kann sich also um keine bloss Selbststeuerung handeln, wie dieser die Insekte fähig sind, sondern um ein Sich-Verhalten gleichsam aus Vernunft, ein Sich-selbst-Regeln. Indem Marx den Menschen als etwas Selbstbewusstes bestimmt, schliesst er sich offensichtlich einer ehrwürdigen Tradition an. Er geht aber in dem Moment über diese Tradition hinaus, in dem er diese traditionelle Bestimmung in die des Menschen als Gattungswesen einbettet. Der Mensch ist nicht bloss selbstbewusst; sein Selbstbewusstein, sein Wissen um sich, ist blosses Moment in einem weiterreichenden Sein als einem zeitlichen Prozess der Selbstregelung. Ferner ist er dies vernünftigerweise: er verhält sich aus einem Wissen von sich selbst und seinen konkreten Umständen heraus, einem Wissen, das dieses Sich-Verhalten betätigt und gerade dadurch bestätigt wird.

Wie ist das näher zu bestimmen, und zwar so, dass das, was Marx von der Tradition unterscheidet, richtig hervortritt? Um zu verstehen, was Marx meint, wenn er den Menschen als ein Gattungswesen in dem soeben angedeuteten vernünftig selbstregelnden Sinn bezeichnet, müssen wir die folgende Textstelle verstehen:

Der Mensch ist ein Gattungswesen, … indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht … . (ÖPM, MEW 40, S.515)

Wir haben hier zwei offensichtlich miteinander verschränkte Bestimmungen des Gattungswesensseins. Aber was heisst, dass der Mensch als Gattungswesen die eigene Gattung zum Gegenstand macht? Und was heisst es, dass er ebendamit auch die Gattungen aller übrigen Dinge zum Gegenstand macht?

Eine Interpretation lässt sich sehr leicht ausschliessen: Zweifellos kann ein selbstbewusstes Wesen nicht nur auf einzelne Gegenstände, sondern auch auf die Arten und Eigenschaften dieser Gegenstände, sich intentional richten. Aber Marx behauptet nicht bloss, dass jeder Mensch irgendwelche Gattungen zu seinem Gegenstand machen kann, sondern, dass jeder Mensch die eigene Gattung und die aller übrigen Dinge zum Gegenstand tatsächlich macht. Und es ist offensichtlich falsch, dass jeder Mensch zu jeder Zeit Intentionales hat bzw. erlebt, die die Gattung ‘Mensch’ und alle anderen Gattungen als Sinnkomponente enthält, geschweige denn andauernd auf alle diese Gattungen selbst intentional bezogen ist. Manche Menschen haben, z.B., gar keinen Begriff von der Menschheit überhaupt, etwa die australischen Ureinwohner bei den ersten Begegnungen mit den Europäern, die sie für Geister hielten. Und zweifellos es gibt viele ‘Gattungen’, von denen wir heute keine Ahnung haben. Die Beziehung zur eigenen Gattung and zu denen der übrigen Dinge, die nach Marx den Menschen als Gattungswesen auszeichnet, muss irgendwie jenseits aller faktischen intentionalen Gerichtheit auf Gegenstände und ihre Gattungen liegen.1

Um weiter zu kommen, besinnen wir uns darauf, wie Marx die soeben zitierte Passage fortsetzt: dass der Mensch als Gattungswesen seine eigene Gattung und die Gattungen der übrigen Dinge zum Gegenstand macht, läuft hinaus, dass er „sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung … , als einem universellen, darum freien Wesen[,] verhält.“ (ÖPM, MEW 40, S.515) Also, Marx selbst behauptet, dass um Gattungswesen zu sein, man sich als Gattungswesen verhalten muss—natürlich in dem vernünftigen Sinn, dass er sich nach einem Wissen von sich und seiner Lage selbstregelnd verhält.

Schon bei Hegel finden wir zumindest ansatzweise die Rede vom Sich-Verhalten-zu-sich-selbst. Sie findet sich aber erst recht bei Denkern wie Kierkegaard und Heidegger vor. Inbesondere der Vergleich mit Heidegger, den man ja nicht normalerweise mit Marx in Verbindung bringt, ist lehrreich. Heidegger schreibt,

Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält. (Sein und Zeit, § 12, H 52-H 53)

Damit ist, so Heidegger, der formale Begriff der Existenz angezeigt.

Nun das Dasein ist für Heidegger genauso sehr „fur sich seiend“ als für Marx der Mensch es ist. An einer Stelle behauptet Heidegger sogar, dass das Dasein durch Egoizität gekennzeichnet ist.2 (MFL, § 11, H 240) Darüber hinaus gibt es einige strukturelle Parallele zwischen der Bestimmung des formalen Begriffs der Existenz und dem, was Marx zur Bestimmung des Menschen als eines Gattungswesens anführt. Zum Beispiel, Marx behauptet, als Gattungswesen müsse sich der Mensch „in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen …,” was er sicherlich nur wissend, eben verstehend, tun kann. Ferner benutzt Heidegger das Wort ‘Sein’ in absichtlich zweideutiger Weise: Einerseits ist das Sein, von dem hier die Rede ist, die jeweilige Washeit, scholastisch, die quidditas, die dem Dasein zukommt, also gerade das, was das Dasein gleichsam gattungsmässig ist. Andererseits ist das Sein, zu dem sich das Dasein verhält, die konkrete Lage, die faktischen Umstände, in denen sich das Dasein jeweils befindet. M.a.W., es ist der bestimmte Kontext, in dem sich das Dasein befindet, also all das, was für den Umgang des Daseins mit den Dingen jetzt relevant ist, was auch dem Dasein in seiner Relevanz gegenwärtig sein muss, damit sich das Dasein in diesem Kontext lebendig, d.h. kontextempfindlich, verhalten kann.3 Angesichts dieser strukturellen Ähnlichkeit möchte ich jetzt versuchen, durch Rückgriff auf den formalen Begriff der Existenz, die erste Bestimmung des Menschen als eines Gattungswesens—dass er die eigene Gattung zum Gegenstand macht—zu interpretieren.

II. Der Formale Begriff der Existenz

Aber zuerst müssen wir uns kurz darauf besinnen, was Heidegger unter Existenz versteht. Bekanntlich meint Heidegger, nicht weniger als Marx, dass der Mensch, sofern er selbstbewusst ist, auch mehr sein muss. Und auch für Heidegger besteht dieses Mehr in der Beschaffenheit des Daseins als eines zeitlich verlaufenden Sich-Verhaltens-zu-etwas. Ferner ist auch für Heidegger dieses Sich-Verhalten wesentlich sozial, ein Mitsein mit anderen. Das ‘Ich’ gibt es nur in einem Geflecht sozialer Beziehungen, innerhalb deren es verschiedene Rollen ausführt—Lehrer, Kollege, Freund, Umweltaktivist, usw. Solche Rollen und Identitäten sind offenbar Bestimmungen, die nur auf selbstbewusste Wesen zutreffen. Denn um irgendeine dieser verschiedenen Bestimmungen objektiv zu instanziieren, muss man sie, wenigstens in der Regel,4 allgemeinen verstehen, um sie dann auf die jeweilige Situation konkret anzuwenden. Um z.B. Lehrer zu sein, muss man in der Regel, gewisse Geschicklichkeiten und Kompetenzen haben, die man oft als recht triviale Faustregeln ausdrücken kann, etwa, langsam und deutlich sprechen, Geduld haben, niemanden favorisieren, usw. Ferner muss man diese Geschicklichkeiten und Kompetenzen von Fall zu Fall effektiv anwenden können, worin natürlich die eigentliche Arbeit und Kunst des Lehrens besteht. Und gerade weil zur effektiven Ausführung Anwendung gehört, ist auch das erforderlich, was Heidegger Umsicht und Rücksicht nennt. Die Umsicht bezieht sich auf die Dinge—die Werkzeuge und Materialien—, Rücksicht auf die Menschen, mit denen man es zu tun hat. Beides sind Fähigkeiten, unmittelbar zu erkennen, wann und in welchem Mass es in der jetzt gegebenen, vielleicht einmaligen Situation angebracht ist, sich so oder so zu verhalten, z.B., diese oder jene Geschicklichkeit auszuüben. Alles in allem, bindet die offensichtlich kognitive Fähigkeit zur Einsicht darin, was die jeweilige Situation gerade jetzt zur angemessenen Ausführung der einschlägigen Rolle oder Identität erfordert, all die verschiedenen Geschicklichkeiten und individuellen Kompetenzen in die Einheit eines Könnens ein, das die und die soziale Funktion erfüllt. Zusammenfassend lässt sich sagen: sofern etwas überhaupt ein ich-denkendes Wesen ist, hat es sich immer schon auf soziale Rollen und Identitäten in soeben geschilderten Sinn eingelassen—soziale Rollen und Identitäten, die insbesondere nicht blindlings ausgeführt werden können, sondern einen kognitiven Einsatz von seiten des Individuums verlangen, das sie ausführt.

Auf dieser Basis können wir jetzt den Kerngehalt des formalen Begriffs der Existenz formulieren: etwas ist im Sinne der Existenz genau dann, wenn es unter Washeiten (quidditates) fällt, unter die man in der Regel nur insofern objektiv fällt, als man eine Anwendungsleistung erbringt, und deshalb auch ein entsprechendes Anwendungsvermögen besitzt.5 Deshalb verwendet Heidegger das Wort ‘Sein’ zweideutig: das Dasein verhält sich verstehend, d.h., anwendend, sowohl zu seinem Sein qua allgemeiner Washeit—der sozialen Rolle bzw. Identität, die zur Anwendung kommt—und zugleich zu seinem Sein qua den besonderen Umständen—den Kontext, in dem die Rolle oder Identität zu Anwendung kommt. Das Dasein passt jenes diesem gleichsam an; in dieser Anpassungsleistung ist es als Lehrer, Kollege, Freund, usw. Zu betonen ist, dass diese Leistung zum Teil eine kognitive ist. Zwar kann man mit Dreyfus sagen, dass die Fähigkeit, eine gewisse soziale Rolle oder Identität auszuführen, eine Art Know-How ist. Aber das Wort ‘Know-How’ muss man ernst nehmen: dem Know-How ist immer gleichsam ein Auge eingesetzt, das Einsicht darin gewährt, was angesichts der jeweiligen, vielleicht einmaligen Situation, in der man handelt, zu tun ist. Ohne dieses Auge, ohne diese Sicht, hätte das Verhalten, in dem die Realisierung der Rolle besteht, nicht die Spontaneität, nicht die unter Umständen präzedenzlose Adaptivität, die von Anwendung zu sprechen berechtigt.

Offensichtlich kann nur das Dasein, und insofern, soweit wir empirisch wissen, nur der Mensch, in Sinne der Existenz sein. Insofern lässt sich sehr wohl sagen, dass Existenz und alles, was zu ihr gehört, Wesensbestimmungen des Daseins, folglich auch des Menschen sind.6 Gleichwohl handelt es sich hierbei um keinen dubiösen Essentialismus, wenigstens nicht in dem Sinn, in dem ihn beispielsweise Rahel Jäggi (Entfremdung—Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Campus Verlag, 2005) versteht. Denn diese Wesensbestimmungen sind bloss formal-, nicht materiell-ontologisch;7 keine bestimmten Rollen oder Identitäten in irgendeiner konkreten Lebensform wurden ausgesondert als wesentlich.

Ich gehe also jetzt dazu über, den formalen Begriff der Existenz auf die erste der zwei Bestimmungen dessen zu übertragen, was es nach Marx heisst, ein Gattungswesen zu sein.

III. Als Gattungswesen macht der Mensch die eigene Gattung zum Gegenstand

Sein in der Weise der Existenz heisst so sein, dass, um das zu sein, was man ist, man sich darauf verstehen muss,8 es zu sein! Dabei handelt sich um ein echtes Verständnis, ein echtes Anwendungsvermögen, dem seine Lage durchsichtig ist, so dass es sieht, was es jetzt zu tun ist. Aber was ist die Anwendung? Worin besteht sie? Soziale Rollen und Identitäten sind derart, dass sich immer von einem, der sie instanziiert, sagen lässt, er ist ein mehr oder weniger gutes Exemplar. Man spricht ja von guten, mittelmässigen bzw. schlechten Lehrern, Freunden, Ehemännern, Umweltaktivisten, Pianisten, Sportlern, usw. Als Inhaber einer sozialen Rolle bzw. Identität ist man wesentlich bewertbar—bewertbar danach, in welchem Mass man dazu fähig ist, die Rolle bzw. Identität so auszuführen, dass die einschlägigen Normen und Werte erfüllt werden. Ähnliches gilt von den einzelnen Ausführungen einer Rolle bzw. Identität, so dass man z.B. von einem eher mittelmässigen Pianisten sinnvoll sagen kann, „So eine hervorragende Darbietung der Hammerklavier-Sonate hätte ich von ihm nie erwartet!“

Nun hat jeder Mensch unbestimmt viele soziale Rollen und Identitäten. Ich bin Lehrer, Kollege, Umweltaktivist, Freund, Liebhaber einheimischer Pflanzen, und vieles mehr. Insofern kann ich mich der Aufgabe gegenübergestellt wissen, zwischen den Anforderungen verschiedener Rollen bzw. Identitäten und dem Kontext vermitteln zu müssen. Beispielsweise könnte ich zwischen dem Lehrer- und dem Umweltaktivistensein wählen müssen—wenn etwa während des Semesters ein Bergbauunternehmen die Aufnahme von Bauarbeiten an einer höchst umstrittenen neuen Kohlengrube plötzlich ankündigt und die Organisationen, die dagegen kämpfen, zur Blockade aufrufen. Wie dieses Beispiel zeigt, stellt jede soziale Rolle oder Identität demjenigen, der sie innehat, stets die Aufgabe, zwischen ihr und dem vielleicht einmaligen Kontext, in dem sie sich abzuspielen hat, zu vermitteln. Wenn, z.B., einer hier in Publikum plötzlich mit allen Anzeichen eines Herzinfarkts umfallen, ich aber einfach fortreden würde als wäre nichts passiert, so wäre mir etwas entgangen. Ich hätte nicht nur den bestimmten Kontext, in dem ich meine Rolle austrage, sondern auch die Rolle selbst missverstanden. Denn ich hätte verkannt, dass es jetzt Zeit ist, meine Rolle als Vortragenden aufzugeben, um Hilfe zu leisten. Im allgemeinen gilt, dass man nur dann eine soziale Rolle oder Identität richtig beherrscht, wenn man zu erkennen vermag, wann es Zeit ist, aus der einen Rolle in eine andere überzuwechseln—oder eben, wie in dem gerade angeführten unerwartet auftretenden Ausnahmefall, in gar keine. Das geht so weit, dass, wenn ich regelmässig eine solche Situationsblindheit aufweisen würde wie die soeben illustrierte, Sie sich fragen dürften, ob ich wirklich oder, wie Heidegger sagen würde, eigentlich ein selbstbewusstes Subjekt wäre.

Offensichtlich ist die Fähigkeit, zwischen Rollen und Identitäten einerseits und dem kontingenten Kontext andererseits zu vermitteln, eine Art Urteilskraft. Insofern ist sie der Umsicht und der Rücksicht ähnlich. Aber ist sie mit diesen einfach identisch? Was Heidegger unter Umsicht und Rücksicht versteht, ist die Fähigkeit, direkt und unvermittelt zu erkennen, wie die Rolle bzw. Identität, die man gerade jetzt ausführt, einerseits umsichtig in Bezug auf Dinge, andererseits rücksichtig in Bezug auf Personen jetzt angemessen auszuführen ist. Also, weder Umsicht noch Rücksicht ist Einsicht darin, ob die Rolle bzw. Identität jetzt überhaupt oder jetzt weiter ausgeführt werden soll. Es handelt sich also bei dieser letzteren Art Sicht gleichsam um ein Auge, das nicht bloss in die Ausführung der Rolle hinein, sondern über ihre Grenzen in die Welt, in der sie auftritt, herausschaut. Ihre Funktion ist es, zu bestimmen, inwieweit es angesichts der konkreten Lage richtig ist und bleibt, in der Rolle zu verharren.

Aber wovon hängt diese Richtigkeit ab? Wie das bisherige Beispiel zeigt, hängt sie davon ab, welche als legitim anerkannte Interessen von der Ausführung bzw. Fortführung einer Rolle beinträchtigt werden. In dem Fall, dass einer in Publikum einen Herzinfarkt erleidet, ist es klar, was diese Interessen sind and dass sie den Vorrang haben. Deshalb ist es auch klar, dass ich zu reden aufhören soll, um Hilfe zu leisten. Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Einsicht darin, was die Rolle bzw. Identität zur angemessenen Ausführung jetzt erfordert; und Einsicht darin, was jetzt, in diesem besonderen Kontext, zu tun ist.

Dieser Unterschied dürfte ungefähr dem entsprechen, den einst Aristoteles zwischen der techné und der phrónesis gemacht hat.9 Inbesondere, genauso wie nach Aristoteles die phrónesis sowohl auf individuelle wie auch gesellschaftliche sophrosýne ausgerichtet ist, zielt die Art Urteilskraft, die zwischen der Ausführung einer sozialen Rolle bzw. Identität und dem jeweiligen Kontext zu vermitteln sucht, auf die Erhaltung eines Gleichgewichts zwischen den eigenen Interessen und den als legitim anerkannten Interessen all derer ab, die durch die Ausführung betroffen sein könnten. Die Art Urteilskraft, die ja von allen Rollen und Identitäten, vorausgesetzt wird, sofern sie Weisen der Existenz und nicht bloss Verhaltensroutinen sind, sowie es solche bei den Insekten gibt—es sei an Hofstädters bekanntes Beispiel der Sphex-Wespe erinnert—, ist also eine Art alltäglicher phrónesis. Dass es sich dabei tatsächlich um die phrónesis handelt, wird erst recht klar, wenn man bedenkt, dass sich diese Art Urteilskraft nicht bloss auf diejenigen richten kann, die unmittelbar von der Ausführung der eigenen sozialen Rollen und Identitäten betroffen sind; sie muss sich zwangsläufig auf immer breitere Kreise möglich Betroffener ausweiten, manche weit entfernt und unbekannt—etwa, die Bauern in Mexico, die den Kaffee anbauen, den man in Deutschland trinkt. Das Anliegen, Gleichgewicht zwischen den eigenen und den legitimen Interessen anderer zu bewahren und ggf. herbeizuführen, muss also letztendlich politisch werden, wie es z.B. beim Konsumverhalten geworden ist, wenn sich Konsumenten um den fairen Handel bemühen.10

Nun sind soziale Rollen und Identitäten nur insofern möglich, als sie in der Regel kompetent und geflissentlich ausgeführt werden. Insofern pflichten die meisten Akteure den Werten und Normen bei, die ihren Rollen und Identitäten zugrunde liegen. Die meisten führen ihre Rollen und Identitäten gewissenhaft aus. Wäre das nicht so,11 so wären die Bedingungen untergraben, unter welchen es überhaupt möglich ist, Rollen und Identitäten auszuführen, was eben so viel besagt, als dass es sie nicht gäbe. Von daher kümmert man sich in der Regel um eine gelungene Vermittlung mit dem Kontext, da eine solche Vermittlung zur angemessenen Ausführung einer sozialen Rolle bzw. Identität gehört. Man kümmert sich also in der Regel12 um Gleichgewicht zwischen den eigenen Interessen und den als legitim anerkannten Interessen der Betroffenen, was natürlich nicht Ausnahmefälle, etwa Psychopathen, ausschliesst.13 Diese Regelhaftigkeit ist ein notwendiges Merkmal der gesamten sozialen Interaktion, innerhalb deren Individuen verschiedene Rollen übernehmen, ausführen und von der einen in die andere überwechseln.14 Natürlich können die verschiedenen Akteure verschiedene Vorstellungen davon haben, wessen Interessen als legitim gelten; Rassisten, z.B., werden Angehörige der Rasse, die sie hassen, ausschliessen.15 Man kann sich also darin durchaus irren, wessen Interessen legitim, folglich zu berücksichtigen sind. Doch bei der Ausführung sozialer Rollen und Identitäten kümmert sich ein jeder in der Regel um Gleichgewicht zwischen irgendwelchen als legitim anerkannten Interessen irgendwelcher Betroffenen.

Daraus ergibt sich der entscheidende Zug in der Rekonstruktion dessen, was Marx unter Gattungswesen versteht: einfach als selbstbewusstes Subjekt ist man immer schon auf einen allerdings kontrafaktischen Idealzustand bezogen, in dem Gleichgewicht zwischen den eigenen und den wahrhaft legitimen Interessen anderer völlig und dauerhaft verwirklicht ist;16 einen Zustand also, in dem jeder seine faktischen Interessen verwirklicht, ohne die eigentlich legitimen Interessen der eigentlich moralisch relevanten Betroffenen zu beeinträchtigen.17 Alle Subjekte sind in dem Sinn darauf bezogen, weil von allen Subjekten gilt, dass man sich in der Regel um die Ausführung der alltäglichen Rollen kümmert, in denen man sich faktisch immer schon befindet. Natürlich muss man sich dieses Idealzustands nicht bewusst sein; es handelt sich nur um etwas, was darin implizit enthalten ist, dass man in der Regel darum besorgt ist, zwischen den eigenen Interessen und gewissen faktischen Interessen zu vermitteln, die man faktisch als legitim betrachtet. Man muss also nur dessen bewusst sein, was man alltäglich zu tun hat.

Marx behauptet, dass der ganze Charakter einer Spezies in ihrer Lebenstätigkeit besteht, und dass „die freie bewußte Tätigkeit … der Gattungscharakter des Menschen“ ist. (ÖPM, MEW 40, S.516) Ein Zustand bewusst erzielter, bewusst erhaltener intersubjektiver Einstimmigkeit der verschiedenen Interesse ist also die wahre, vollkommen verwirklichte Gattungscharakter des Menschen. Befindet er sich in diesem Zustand, so besteht er optimal oder gar eigentlich als selbtsbewusstes, aber auch sinnliches, endliches Subjekt. Dieser Zustand stellt die wahre Form der, wie Marx sich ausdrückt, wechselseitigen Ergänzung verschiedener Menschen zu einem Gemeinwesen dar—siehe ÖPM, MEW 40, S.451. Was also Marx vorschwebt, wenn er behauptet, dass der Mensch ein Gattungswesen ist, das seine eigene Gattung zum Gegenstand macht, ist gerade das Ausgerichtetsein eines jeden Menschen auf diesen kontrafaktischen Zustand bewusst erzielter und bewusster erhaltener intersubjektiver Einstimmigkeit der Interessen—auf den Zustand also, in dem jeder das Seine bekommt.18

Gerade diese letzte Formulierung erinnert an Kant. Nach Kant ist der kontrafaktische Zustand einer vollkommenen intersubjektiven Einstimmigkeit—in seinen Worten, die Einheit von Gerechtigkeit und Glückseligkeit—das vollendete Gute.19 Ferner hat er diesen Zustand als das angesehen, was ein jeder normale Mensch beim hinreichend langen Überlegen als das wahre Glück anerkennen würde, weil nur dieser Zustand, angesichts dessen, was der Mensch wesentlich ist, dauerhaft zufriedenstellen kann. Das leuchtet ein, sobald man den Menschen als ein Wesen begreift, dem es in der Regel daran liegt, ein Gleichgewicht zwischen den eigenen Interessen und den legitimen Interessen anderer zu bewahren und ggf. herbeizuführen. Es folgt also trivialerweise, dass der Zustand, in dem der Mensch optimal besteht als das Wesen, das er ist, ihn auch dauerhaft zufrieden sein lässt.20 Schliesslich hat Kant auch erkannt, dass die wesentliche Ausgerichtetheit des Menschen auf den Zustand des vollenden Guten beinhaltet, dass das individuelle und das soziale Glück zusammenfallen: das eine lässt sich nur vollkommen verwirklichen, indem sich das andere vollkommen verwirklicht. Gerade das hat auch Aristoteles gesehen, weshalb er behauptet hat, dass der Mensch ein politisches Tier ist.21 M.E. schliesst sich Marx dieser kantischen und auch letztlich aristotelischen Tradition an, indem er behauptet, als Gattungswesen macht der Mensch die eigene Gattung zum Gegenstand.22

IV. Entfremdung in der dritten von Marx unterschiedenen Hinsicht

Entfremdung in der dritten von Marx unterschiedenen Hinsicht ist Entfremdung dem eigenen Wesen als Menschen und damit auch sich selbst gegenüber. Marx behauptet nun, die entfremdete Arbeit, indem sie den Arbeiter in dieser Hinsicht entfremdet, „macht … ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens.“ (ÖPM, MEW 40, S.516) Das Gattungsleben ist das produktive Leben (ÖPM, MEW 40, S.516) und das produktive Leben ist anscheinend die Gesamtheit aller Ausführungen von sozialen Rollen und Identitäten, die zusammen den Prozess bilden, durch den eine Gesellschaft ihr materielles Bestehen sichert. Das produktive Leben ist also das, was man in der Ökologie den biophysischen Austausch einer Gesellschaft mit der Natur nennt. Demnach entsteht Entfremdung in dritter Hinsicht dadurch oder darin, dass die kapitalistische Organisation der Arbeit das produktive Leben auf eine Interaktion reduziert, bei der es bloss um die Erhaltung des individuellen Lebens geht.

Die soeben erarbeitete Interpretation dessen, was es heisst, die eigene Gattung zum Gegenstand zu machen, deutet darauf hin, wie das vielleicht zu verstehen ist: das kapitalistisch organisierte Gattungsleben ist so beschaffen, dass es dem Arbeiter in einem bedeutsamen Mass unmöglich macht, das zu erkennen und herbeizuführen, worin Gleichgewicht zwischen den eigenen Interessen und den legitimen Interessen anderer konkret besteht. Das würde ja offenbar bedeuten, dass das Gattungsleben in soeben angedeuteten Sinn auf das individuelle Leben reduziert wird. Die Erschwerung und Hemmung der realen Möglichkeit und sogar der psychischen Fähigkeit, sich im Gattungsleben als Gattungswesen zu verhalten, mithin als Gattungswesen zu erhalten, kann auf verschiedene Weise zustandekommen. Zu Marx’ Zeit kam sie dadurch zustande, dass der Arbeiter für einen niedrigen Lohn bis zur physischen Erschöpfung und unter gefährlichen Bedingungen arbeiten musste. Ist man nämlich arm, körperlich erschöpft und gesundheitsgefährdet, so hat man nicht alle Ressourcen, die dazu erforderlich sind, zwischen den eigenenen und den legitimen Interessen anderer zu vermitteln. Das wird erst recht klar, wenn man bedenkt, dass diese Vermittlung letztlich nur politisch erzielt und umgesetzt werden kann.

Wichtig ist aber, dass, wenn Entfremdung dem eigenen Wesen und damit auch sich selbst gegenüber so verstanden wird, man auch dann in diesem Sinn entfremdet sein kann, wenn die Arbeit nicht schlecht bezahlt, körperlich erschöpfend und gesundheitsgefährend ist. Denn die reale Möglichkeit und die psychische Fähigkeit, sich als Gattungswesen zu verhalten, könnten etwa dadurch erschwert und gehemmt werden, dass die Organisation der Arbeit so komplex, so schnell beweglich und so ausserordentlich fähig, sich auf neue Umstände umzustellen, dass die Aufgabe, zwischen den eigenenen und den legitimen Interessen anderer zu vermitteln, nach und nach die Fähigkeit des Arbeiters übersteigt.23 Es kommt auch hinzu, dass je mehr die Organisation der Arbeit die Eigenschaften von Komplexität, Schnelle und Flexibilität aufweist, desto grösser der Druck wird, alle Aspekte des Lebens den Imperativen eines effektiv funktionierenden produktiven Lebens unterzuordnen. Dadurch entsteht eine Fragmentierung der individuellen Arbeitszeiten, die zunehmend den Arbeiter des ausserberuflichen Kontakts und der ausserberuflichen Interaktion mit anderen beraubt. Bedenkt man nochmals den letztendlich politischen, deshalb auch intersubjektiven Charakter der Vermittlungsaufgabe, so wird es auch wiederum klar, dass eine solche Arbeitsorganisation die Möglichkeit erheblich beeinträchtigen kann, sich als Gattungswesen zu verhalten—auch dann, wenn die Arbeit nicht verelendet, nicht erschöpft und nicht gefährdet.24

V. Als Gattungswesen macht der Mensch die Gattungen aller übrigen Dinge zum Gegenstand

Nach Marx macht der Mensch als Gattungswesen nicht nur die eigene Gattung, sondern auch die Gattungen aller übrigen Dinge zum Gegenstand. Was soll das heissen? Auffallend an dieser zweiten Bestimmung ist, dass Marx keine Einschränkung macht: die Gattungen buchstäblich aller übrigen Dinge sind gemeint. Dass der Mensch die Gattungen aller Dinge zum Gegenstand macht kann also nicht heissen, dass er sich ihrer tatsächlich bewusst wird, und auch nicht, dass er sich ihrer bewusst werden kann. Denn die Menge von Gattungen, deren sich ein Mensch bewusst ist bzw. werden kann, umfasst offensichtlich nicht alle Gattungen überhaupt. Wie beim Bezogensein des Menschen auf die eigene Gattung, so auch hier: Marx meint Beziehung, die besteht, dessenungeachtet, was sich im Bewusstsein dieser oder jener Menschen abspielt.

Aber auch hier scheint der Schlüssel zum Verständnis in der These zu liegen, dass als selbstbewusst der Mensch sich immer schon in sozialen Rollen und Identitäten befindet. Diese Rollen und Identitäten setzen alle jenen Prozess des Austauschs mit der Natur voraus, den Marx das produktive Leben nennt; ja, in vielen Fällen bilden sie selber funktionale Komponenten dieses Prozesses. Das deutet darauf hin, worin nach Marx das produktive Leben des Menschen von dem des Tiers unterscheidet:

Zwar produziert auch das Tier. Es baut sich ein Nest, Wohnungen, wie die Biene, Biber, Ameise etc. Allein es produziert nur, was es unmittelbar für sich oder sein Junges bedarf; es produziert einseitig, während der Mensch universell produziert; es produziert nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst frei vom physischen Bedürfnis produziert und erst wahrhaft produziert in der Freiheit von demselben … . (MEW 40, S.517)

Natürlich will Marx nicht leugnen, dass der Mensch produziert, um Bedürfnisse zu befriedigen, und dass er durch seine Biologie dazu gezwungen wird. Marx will nur auf eines hinaus: der Mensch muss nicht unmittelbar, d.h., nur das produzieren, was er selber gerade jetzt bedarf. Der Mensch kann produzieren, um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen und auf diese durch die Produktion der anderen vermittelte Weise die eigenen befriedigen—, indem, nämlich, die anderen für ihn produzieren. Offenbar schwebt Marx die Art Produktion vor, die Arbeitsteilung umfasst und Austauschverhältnisse unterstellt. Aber gerade weil der Mensch auf diese vermittelte, mit der Produktion anderer verschränkte Weise produziert, tritt er im Unterschied zu dem Tier, wie Marx sich ausdrückt, seinem Produkt frei gegenüber. (MEW 40, S.517) Das heisst, er kann sein Arbeitsprodukt, den Arbeitsprozess und auch sich selbst als Arbeiter zum Gegenstand eines Selbstbewussteins machen, das diese in ihrer Einheit als eines produktiven Akts in weitesten Sinn (poiēsis) begreift und in eine Totalität einordnet, in der er sich immer schon in einem breiteren, kooperativ organisierten intersubjektiven produktiven Leben betätigt.25 Das ist der erste und ursprünglichste Totalitätsbegriff, über den der Mensch als für sich seiendes organisches Wesen verfügt. Die Totalität der Dinge wird zuallererst verstanden als das, worin sich der Mensch zusammen mit anderen produzierend zu etwas verhält. Die Totalität in diesem Sinn ist sozusagen per definitionem der Spielraum, in dem sich das produktive Leben, an dem der Mensch teilnimmt, abspielt.

Dieser Totalitätsbegriff muss näher bestimmt werden. Es muss nämlich die Hinsicht angegeben werden, in der dem Menschen dasjenige gegeben ist, wozu sich er produzierend verhält. Weil es sich um ein produzierendes Sich-Verhalten handelt, kann diese Hinsicht nur die sein, dass die Dinge, auf die er sich bezieht, ihm gegeben sind als dienlich, abträglich oder gleichgültig—je nachdem, was sie sind. Daraus ergibt sich schon ein provisorischer Sinn, in dem der Mensch die Gattungen aller übrigen Dinge zum Gegenstand macht. Marx meint, als für sich seiendes Wesen versteht sich der Mensch von vornherein als zu einer Totalität von Seiendem gehörend, das mehr oder weniger nützlich bzw. schädlich ist, wobei die ‘Gattung’ dieses Seienden bestimmt, inwiefern es nützlich oder schädlich ist. Denn es ist offensichtlich die Gattung eines Dings, die bestimmt, in welcher Hinsicht und in welchem Mass es nützlich oder schädlich ist.

Wir müssen aber vorsichtig sein. Nützlich und schädlich können hier nicht heissen bloss nützlich und schädlich für diesen oder jenen Menschen, angesichts dieses oder jenes konkreten Ziels, dieses oder jenes konkreten Bedürfnisses, das er gerade jetzt zufälligerweise hat. Daraus ergäbe sich keine plausible Interpretation dessen, worin es besteht, die Gattungen aller Dinge zum Gegenstand zu machen, sondern allenfalls nur die Gattungen der Dinge, mit denen man es gerade jetzt zu tun hat, weil man gerade jetzt dieses oder jenes Ziel verfolgt, dieses oder jenes konkrete Bedürfnis befriedigen möchte. Es würde sich nur um Dinge handeln, für die man immer schon Begriffe hat. Die hier in Frage kommende Nützlichkeit, Schädlichkeit und eigentlich auch Gleichgültigkeit müssen etwas betreffen, dessen sich der Mensch nicht bewusst ist, das er auch nicht anstrebt. Es muss sich also auf das ganze produktive Leben beziehen, innerhalb dessen sich der Mensch produzierend zu etwas verhält. Das heisst, die Dinge, auf die sich der Mensch zusammen mit anderen produzierend bezieht, müssen irgendwie dem produktiven Leben insgesamt dienlich, abträglich oder gleichgültig sein, je nachdem, was sie sind. Und das, hinsichtlich dessen die Dinge dienlich, abträglich oder gleichgültig sind, darf nur eine Implikation, eine Folge, der Art und Weise sein, wie sich der Mensch in der Regel seine einzelnen konkreten Ziele verfolgt, sein einzelnen konkreten Bedürfnisse befriedigt. Aber nach der ersten Bestimmung des Gattungswesenseins verfolgt der Mensch in der Regel seine Ziele, befriedigt er seine Bedürfnisse, in der Art und Weise, dass Gleichgewicht zwischen der Verwirklichung der eigenen Interessen und der Verwirklichung der als legitim anerkannten Interessen anderer erhalten bleibt bzw. herbeigeführt wird. Also, das, hinsichtlich dessen die Dinge dem produktiven Leben insgesamt dienlich, abträglich oder gleichgültig sind, je nachdem, was sie sind, ist der Charakter dieses Lebens als eines, das jedem die Möglichkeit gewährt, seine Bedürfnisbefriedigung auf die legitime Bedürfnisbefriedigung der anderen frei abzustimmen.

Zu betonen ist, dass sich der Mensch nur dessen eigentlich bewusst ist, dass dieses oder jenes, wozu er sich gerade jetzt verhält, für dieses oder jenes konkrete Ziel, für die Befriedigung dieses oder jenes konkreten Bedürfnisses, dienlich, abträglich oder gar gleichgültig ist. Er ist aber zugleich ein Gattungswesen, das nach der ersten Bestimmung des Gattungswesenseins die eigene Gattung zum Gegenstand macht. Insofern geschieht die lokale, partikulare Bedürfnisbefriedigung unter dem Vorbehalt, dass Gleichgewicht zwischen den eigenen und den von ihm als legitim anerkannten Interessen anderer erhalten bleibt und ggf. herbeigeführt wird. Gerade deshalb sind die Dinge selbst, ohne dass sich der Mensch dessen bewusst sein muss, Gelegenheiten und Hindernisse in Bezug auf mehr als die lokale, partikulare Bedürfnisbefriedigung. Alle Dinge sind Gelegenheiten und Hindernisse in Bezug auf die Verwirklichung dessen, was Marx das wahre Gattungsleben, Kant das vollendete Gute nennen.26 Nur so können sie dem Menschen gegeben sein als ihm dienliche, abträgliche oder auch gleichgültige Glieder einer Totalität, in der er sich zusammen mit anderen produzierend zu ihnen verhält. Solche Gelegenheiten und Hindernisse sind sie aber nur, je nachdem, was sie sind. In diesem genaueren Sinn macht der Mensch als Gattungswesen die Gattungen aller übrigen Dinge zum Gegenstand.

Schluss

Zum Schluss ist viererlei anzumerken: erstens, um die zweite Bestimmung des Menschen als eines Gattungswesens—dass er die Gattungen aller übrigen Dinge zum Gegenstand macht—zu interpretieren, haben wir die erste—dass er die eigene Gattung zum Gegenstand macht—herangezogen. Wir haben also die sicherlich zu stellende Forderung erfüllt, die zwei Bestimmungen zusammenzuführen und in ihrer Einheit auszuweisen. Zweitens, der Totalitätsbegriff, der sich bei der Interpretation der zweiten Bestimmung herausgestellt hat, darf als ein Begriff der Natur betrachtet werden. Drittens, dieser Begriff der Natur ist der erste und ursprünglichste—allerdings nicht in einem metaphysischen Sinn, wie z.B. der heutige Naturalismus den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft versteht, sondern in einem kantischen, transzendentalphilosophischen Sinn. Er ist der erste und ursprünglichste in dem Sinn, dass er in die Struktur des Selbstseins eingebaut ist. Gerade das meint Marx, wenn er auf zunächst rätselhafte Weise behauptet, „Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist.“ (MEW 40, S.516) Alle anderen Naturbegriffe setzen diesen transzendentalphilosophischen Begriff in dem Mass voraus, in dem sie behaupten, in der Natur in ihrem Sinn trete der Mensch als Mensch auf. Viertens, wenn Marx in die Nachfolge von Kant auf diese radikale Weise einzureihen ist, so muss man sehr vorsichtig mit dem Unterschied zwischen Marx und Hegel umgehen. Es ist eigentlich recht irreführend, diesen Unterschied als einen zwischem Materialismus und Idealismus zu formulieren. Marx selbst erkennt das, wenn er behauptet, dass sein Standpunkt „sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist.“ (MEW 40, S.577) Demnach bestünde der grosse Unterschied zwischen Marx und Hegel darin, dass diese das Wissen, jener das Arbeiten als die Tätigkeit, nach der sich das Sein der Dinge richtet, also deren Bedingungen der Möglichkeit die Philosophie zu erkunden hat.

Notes

  1. An einer Stelle spricht Marx von dem „Bewusstsein, welches der Mensch von seiner Gattung hat … .“ (ÖPM, MEW 40, S.517) Aber Marx scheint eben nicht zu meinen, dass der Mensch ein Bewusstsein des Mensch-seins in demselben Sinn hat, wie zumindest manche Menschen ein Bewusstsein des Kängaruh-seins haben. Letzteres läuft darauf hinaus, dass man den Begriff ‘Kängaruh’ versteht und in dem Gehalt verschiedener intentionaler Zustände und -erlebnisse hat. Aber in der soeben zitierten Passage behauptet Marx, dass das Bewusstsein, das er von der eigenen Gattung hat, „verwandelt sich durch die Entfremdung … dahin, daß das Gattungs[leben] ihm zum Mittel wird.“ Wenn er ein Bewusstsein der eigenen Gattung in genau demselben Sinn hätte wie wenigstens manche ein Bewusstsein des Kängaruh-seins haben, so würde sein Bewusstsein von der Entfremdung unberührt bleiben, genauso wie ein Bewusstsein des Kängaruh-seins unberührt bliebe.

  2. Im übrigen verbindet Heidegger in dieser Passage, genauso wie Marx es tut, die Egoizität des Daseins mit dessen Freiheit.

  3. Ausserdem ist es klar, dass wenn Marx von Gattungswesen spricht, er auf eine ähnliche Zweideutigkeit anspielt. Denn das Wort ‘Wesen’ kann entweder eine einzelne Instanz einer Gattung oder die Gattung selbst bezeichnen. Kurzum, bei beiden Denkern gibt zumindest ähnliche Denkfiguren, die von der scholastischen Unterscheidung zwischen existentia und essentia ausgehen. Das wird nur noch durch den Hinweis darauf unterstrichen, dass Marx’ Gebrauch des Terminus ‘Gattungswesen’ aus seinen Anleihen bei, und seiner Auseinandersetzung mit, der ausdrücklich auf die Scholastik zurückgehenden Religionskritik von Feuerbach hervorgegangen ist.

    In der Deutschen Ideologie kritisieren Marx und Engels Feuerbach deshalb, weil er menschliches Wesen und faktische menschliche Existenz miteinander gleichsetzt—siehe MEW 3, S.42. Doch Feuerbach kann keine wortwörtlich zu verstehende Gleichsetzung meinen, denn das ist schlicht absurd. Dass Marx und Engels das selbstverständlich erkennen, zeigt sich dort, wo sie Feuerbach ferner vorwerfen, wegen seiner Gleichsetzung von Wesen und Existenz kann er jede Ausnahme nur „als ein unglücklicher Zufall, als eine Abnormität, die nicht zu ändern ist … .“ (ebenda; Kursivierung von mir) betrachten. Damit deuten sie an, wogegen sie eigentlich einwenden, wenn sie die Gleichsetzung von Wesen und Existenz bei Feuerbach bemängeln: Feuerbach fasst das eigentliche Verhältnis zwischen Wesen und Existenz, zwischen essentia und existentia, nicht richtig auf, weil er jeden Abfall von dem Optimum, das durch das Wesen bestimmt wird, als etwas ansieht, das ganz zufällig geschehen ist, wo doch in gewissen Fällen—den menschlichen, sozialen, geschichtlichen Fällen—die suboptimale Instanz nur deshalb zustandegekommen ist, weil die suboptimale Instanz eben Instanz ist. Kritischer Rückgang auf den konkreten, nur empirisch zu untersuchenden Werdegang der suboptimalen Instanz gewährt Einsicht darin, wo die Verwirklichung des Wesens schiefgelaufen ist, ist also insofern zugleich mindestens notwendige Bedingung der Einsicht darin, wie die Abnormität zu ändern ist. Also genauso wenig wie Feuerbach Wesen und Existenz schlicht identifiziert, wollen Marx und Engels sie bloss unterscheiden. Dass es sich um verschiedene ontologische Kategorien handelt, braucht kaum hervorgehoben zu werden; ausserdem würde eine solche Hervorhebung gar nicht dazu berechtigen, gegen Feuerbach die Möglichkeit von Veränderung zu behaupten und vor allem ihr begrifflich Platz zu machen. Tatsächlich wollen Marx und Engels darauf hinaus, dass es zwischen Wesen und Existenz eine derartige Identität-in-Differenz gibt, die es in manchen Fällen gestattet, auf die konkreten Umstände und Entstehungsgeschichte einer Abnormität zurückzugehen, um festzustellen, wie die Verwirklichung des Wesens schiefgelaufen ist, und dadurch, was die Möglichkeiten zur Verbesserung und Berichtigung sind.

  4. Es kann natürlich vorkommen, dass sich jemand in der Rolle etwa eines Lehrers befindet, ohne sich überhaupt darauf zu verstehen. Aber das ist nur möglich als Ausnahme; befänden sich nicht hinreichend viele nicht nur faktisch in dieser Rolle, sondern auch in der Lage, sie hinreichend effektiv auszuführen, so gäbe es die Rolle nicht. Im Nachfolgenden werde ich diese Möglichkeit nicht immer expressis verbis berücksichtigen, weil das zu tun die Darstellung ohne erheblichen Gewinn nur erschweren würde.

  5. Die hier in Frage kommenden Washeiten sind natürlich zunächst und zumeist soziale Rollen bzw. Identitäten im soeben charakterisierten Sinn. Damit soll jedoch nicht ausgeschlossen sein, dass sich auch gewisse Verhaltensweisen, die eben keine sozialen Rollen und Identitäten sind, die aber solche voraussetzen, als Modi der Existenz, wenigstens in einem erweiterten Sinn, betrachten lassen. Gemeint sind hier gewisse Tugenden, wie z.B. Rechtschaffenheit, Güte, Kooperationsbereitschaft, Fleiss, vielleicht auch Tapferkeit, usw. Interessanterweise liesse sich das nicht auf die entsprechenden Laster übertragen. Daran zeigt sich der abgeleitete, privative Charakter des Lasters.

  6. Deshalb behauptet Heidegger zurecht, das Wesen des Daseins liege in seiner Existenz. Im übrigen verrät diese Auslegung des Heidegger’schen Existenzbegriffs, warum es grundsätzlich verfehlt ist, die Behauptung Heidegger mit der zunächst ähnlichen erscheinenden These von Sartre, dass im Falle des Selbstbewussteins Existenz Essenz vorausgeht.

  7. Wie es mir scheint, unterscheidet Jäggi nicht hinreichend, ja eigentlich gar nicht, zwischen einer formal-ontologischen und konkret materiell- oder regional-ontologischen Betrachtung.

  8. Zumindest in der Regel. Ein Mensch, der gar nicht fähig ist zu lehren, könnte durch irgendeinen administrativen Fehler eine Stelle als Lehrer bekommen; er würde sich insofern durchaus korrekt als Lehrer bezeichen. Aber offensichtlich könnte das nicht die Regel sein, ohne dass der Lehrerberuf und und die Lehrerrolle zusammenbrächen.

  9. Dass dieser Unterschied dem von Aristoteles gemachten nur ungefähr entspricht, muss betont werden. Soziale Rollen und Identitäten wie das Freund- oder Ehemannsein lassen sich offenbar nur schwer als technai bezeichnen .

  10. Bekanntlich hat Aristoteles die phrónesis der Politik zugeordnet.

  11. Mit Heidegger gesprochen, wäre sie nicht ein Gewissen-haben-wollen! Tatsächlich scheint mir das Gewissenhaft-sein das zu sein, was Heidegger mit Gewissen-haben-wollen meint. Denn zu Ende gedacht setzt die Gewissenhaftigkeit das Gewissen voraus; nur ein moralisch empfindliches Subjekt kann wirklich bei der Stange bleiben, denn nur eine letztlich moralische Sensibilität und Sorge gewährt die Beständigkeit der Persönlichkeit—was Heidegger, wohl in Anspielung auf den Fall Luther, Selbstständigkeit nennt—, in der die Gewissenhaftigkeit als eine Regelhaftigkeit des Charakters besteht.

  12. Die Einschränkung „in der Regel“ ist notwendig, um mit dem Fall fertigzuwerden, den Hutcheson „pure malice“ and Kant den schlechthin bösen Willen nannten, wir aber heute den Psychopathen nennen würden. Einer, der sich gar nicht um eine Vermittlung zwischen den verschieden durch eine Handlung betroffenen Interesssen kümmert, so dass er nicht einmal Gewissensbisse empfindet, ist ontologisch eine Ausnahme von einer Regel.

  13. Auch wenn man Willensschwäche erleidet, so dass man bei der Ausführung versagt, kann man sich immer noch um die Ausführung wenigstens in dem Sinn kümmern, dass man dabei ein schlechtes Gewissen hat. Die richtigen Ausnahmen sind diejenigen, die sich sogar nicht einmal in diesem Sinn um ihre soziale Rollen und Identitäten kümmern. Das sind die Sozio- und Psychopathen. Aber solche Menschen sind die Ausnahmen, die die Regel beweisen. M.a.W., sie sind parasitäre Fälle, und zwar deshalb, weil die Fähigkeit, moralische Urteile zu fällen (die sie auf jeden Fall besitzen), bei anderen gleichsam abgeguckt ist, die Recht und Unrecht empfinden können.

  14. Dass das Lügen nur eine Ausnahmeerscheinung in einer allgemeinen Praxis des in der Regel aufrichtigen Behauptens sein kann, ist ein Sonderfall dieses allgemeinen Prinzips.

  15. In einem letztes Jahr an der ANU gehaltenen Vortrag hat Stephen Stich von einem Stamm in Borneo berichtet, deren Angehörige meinen, es spreche nichts dagegen, dass man Menschen, die zum Stamm nicht gehören, beklaut.

  16. Aus diesem wesentlichen Bezug lässt sich erklären, weshalb wir alle unmittelbar empfinden und einsehen, dass bei zwei möglichen Welten, in welchen es die Gerechtigkeit im selben, das Glück im unterschiedlichen Mass gibt, die Welt besser ist, in der das grössere Glück verwirklicht ist. Gleichwohl ist es uns nicht moralisch geboten, diese Welt vor der anderen anzustreben, denn ex hypothesi sind beide Welten in Hinsicht darauf, was uns geboten ist, identisch. Eine Welt, in der sich das vollendete Gut in grösserem Mass verwirklicht hat, ist bloss ethisch wünschenswerter.

  17. Es leuchtet ein, dass dieser Zustand nur insofern möglich ist, als sich Gleichgewicht sowohl intern, d.h., in dem einzelnen Individuum selbst, also zwischen dem, was es soll, und dem, was es will; als auch extern, d.h., zwischen den verschiedenen Individuen, also intersubjektiv besteht.

  18. Natürlich ist das nicht ein Ausgerichtetsein auf das Gattung als solche, sondern auf den Zustand, in dem die Gattung ‘Mensch’ optimal verwirklicht ist. Aber ebendeshalb handelt es sich um ein Ausgerichtetsein auf einen Zustand, den man nur bestimmen bzw. individuieren kann gerade als denjenigen, in dem die Gattung ‘Mensch’ verwirklicht ist. Folglich ist das Ausgerichtsein auf diesen Zustand auf jeden Fall eine Beziehung zur Gattung ‘Mensch’—allerdings eine vermittelte. Man könnte nur insofern mit diesem Ergebnis enttäuscht sein, als man meinte, es dürfe nur um eine intentionale Beziehung auf die Gattung ‘Mensch’ in Frage kommen. Aber wir wissen schon, dass das nicht geht, weil nicht jeder Mensch ein Bewusstsein von der Gattung haben muss.

  19. „So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer, als Bedingung, das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“—Kritik der praktischen Vernunft, Zweites Hauptstück.

  20. Auch wenn selbst in diesem optimalen Zustand er gelegentlich die Enttäuschung manches wichtigen Bedürfnisses erlebt. Zufriedenheit muss nicht heissen, dass alle wichtigen Wünsche und Sehnsuchten in Erfüllung gehen. Wie die Arbeiten von Kübler-Ross und anderen zeigen, es ist möglich, auch in der Sterbeklinik zufrieden und insofern glücklich zu sein.

  21. Vgl. Politik, 1253a1-18.

  22. Zu beachten ist, dass wenn man diese Behauptung so versteht wie hier empfohlen, man auch verstehen kann, warum von Anfang an Marx meint, sein Sozialismus und Kommunismus (der ja im alltäglichen Sinn äussert utopisch zu sein scheint!) sei kein utopischer sondern ein wissenschaftlicher: Marx meint, zumindest das allgemeine, abstrakte Skelett der Utopie in dem Wesen des Menschen—im Grunde in einer fundamentalen Ontologie des Selbstseins—begründet zu haben. Das formale Gerüst der Utopie ist dem menschlichen Selbst und damit auch der menschlichen Gesellschaft immanent.

  23. Hier denke ich hauptsächlich an die Organisation der Arbeit im Sinne der Zusammenbindung verschiedener produktiver Einheiten, etwa Fabriken, in äussert lange, schnell fliessende und schnell umstellende Lieferketten. Ich denke also an dieser Stelle nicht an die Binnenorganisation der produktiven Einheiten selbst. Aber der Wettbewerbsdruck, der zusammen mit dem technischen Fortschritt zu solchen Lieferketten führt, wirkt sich auch auf die Binnenorganisation aus, etwa, in der Gestalt unaufhörlicher Beschleunigung des Arbeitsprozesses, erhöhter Überwachung, Flexibilisierung der Arbeitszeit, usw.

  24. Es steckt nun in dieser Feststellung eine wichtige Einsicht in die Rolle, die der Marx’sche Entfremdungsbegriff in seinem ganzen Denken spielt: ohne diesen Begriff muss sich die Kritik an der kapitalistischen Organisation des produktiven Lebens auf die Kritik an verschieden besonderen Folgen dieser Organisation reduzieren. Sobald aber diese besonderen Folgen durch die Organisation des produktiven Lebens selbst beseitigt werden—und so ist es mit der Armut, Erschöpfung und Gesundheitsgefährdung des 19.ten Jahrhunderts, wenigstens für viele, geschehen—, entfällt die Kritik. Sofern also der Marxismus die Notwendigkeit und die Natur radikaler gesellschaftlicher Veränderung erklären will, muss er die kapitalistische Organisation der Arbeit nicht nur als ungerecht in dieser oder jener Hinsicht, sondern in allen Hinsichten entfremdet und entfremdend verstehen. Das sieht man klar an der Marx’schen Arbeitswerttheorie: wenn es dem Arbeiter gut geht, kann es ihm egal sein, dass dem von ihm geschaffenen Tauschwert ein Anteil als Mehrwert abgezogen wird. Irgendwie muss es ihm auf eine ganz fundamentale Weise doch nicht so gut gehen, wie es ihm zunächst erscheint, und dieses ihm nicht wirklich so gut Gehen muss kausal daraus hervorgehen, dass ihm ein Anteil des von ihm geschaffenen Werts genommen wird. Irgendeine Theorie der Entfremdung muss her, auch bei dem späteren Marx.

    Ist das aber so, wie verträgt sich diese Bestimmung dessen, was es heisst, durch die kapitalistische Lohnarbeit dem eigenen Wesen und damit auch sich selbst entfremdet zu sein, mit der Kritik, die Marx nur ein Jahr später an dem philosophischen Gehalt der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte zu üben scheint, etwa in der Deutschen Ideologie und den damit begleitenden Elf Thesen über Feuerbach? Ist es nicht so, dass Marx, zusammen mit Engels, die Begrifflichkeit von Wesen und Gattung völlig verwirft? Eigentlich nicht. Die Kritik an Feuerbach betrifft nicht den Begriff des Wesens als solches, sondern wie Feuerbach den Begriff versteht. Wenn Marx gegen Feuerbach einwendet, dass „ … das menschliche Wesen … kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum … “ sondern “(i)n seiner Wirklichkeit … das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse [ist],“ („Sechste These über Feuerbach,“ MEW 3, S.534) so greift Marx nicht den Wesensbegriff an, denn die Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist offenbar ein Typ und insofern ein Wesensbegriff. Das, wogegen Marx einwendet, eigentlich recht unklar, ist das Fehlen bei Feuerbach einer klaren Unterscheidung zwischen dem menschlichen Wesen als solchem und den besonderen substanziellen Menschen- und den ihnen entsprechenden Gesellschaftstypen, die dieses Wesen exemplifizieren bzw. voraussetzen. Weil er weiss, dass das menschliche Wesen als solches nicht mit irgendeinem substanziellen Typ des Menschen identifiziert werden kann, abstrahiert Feuerbach weg von allen konkreten Menschen- und Gesellschaftstypen auf das, was sie alle vereint. Auf er missversteht das Verhältnis zwischen den substanziellen Typen und dem in einem ja gewissen Sinn ganz abstrakten menschlichen Wesen: er sieht letzteres an als würde es in dem Verhältnis eines Genus zu einer seiner Spezien stehen. Es überrascht also nicht, dass Feuerbach nicht konkretes und informatives über das menschlische Wesen sagen kann. Offenbar begeht Feuerbach den Fehler, auf den schon Aristoteles hinweisen wollte, als er sagte, das Sein ist kein genus. Also, Feuerbach sieht nicht, dass das Verhältnis zwischen dem menschlichen Wesen und allen substanziellen Menschen- und Gesellschaftstypen eigentlich das ist zwischen einer formal-ontologischen und einer materiell- oder regional-ontologischen Bestimmung. Dieses Verhältnis darf nicht an das Verhältnis zwischen dem Genus oder Obergattung ‘eucalyptus’ und der Spezies bzw. Gattung ‘eucalyptus dives’ angeglichen werden. Allerdings ist Marx selbst diese Unterscheidung zwischen formal-ontologischer und materiell-ontologischer Betrachtung nicht klar, weshalb der Schein entsteht, er würde ganz auf den Wesensbegriff verzichten, was offentlich unsinnig ist, da ja gerade seine Analyse der Dynamik des Kapitals eine Wesensbestimmung des Kapitalismus ist.

  25. Man kann ja sagen, dass der Mensch, im Unterschied zu dem Tier, sein Produkt, sich selbst und seine produzierende Tätigkeit als innerhalb bzw. in der Welt versteht.

  26. Tatsächlich eignet sich aus der Perspektive von Marx das vollendete Gute sehr gut als das, was den Sinn des jetzt hervorgetretenen Totalitätsbegriffs festlegt. Hierfur gibt es zwei sich gegenseitig ergänzende Gründe. Einerseits ist das vollendete Gute hinreichend formal, um zu gewährleisten, dass alle möglichen Formen des produktive Lebens, das sich innerhalb dieser Totalität abspielt, umfasst. Andererseits ist es hinreichend konkret, um eine Alternative zur Relativierung auf eine unbestimmte Vielfalt verschiedener und ganz beliebiger Bedürfnisse darzustellen. Würde man die Nützlichkeit der Dinge nicht auf das vollendete Gute zurückbeziehen können, so müsste man das produktive Leben—im Grunde die Wirtschaft—so verstehen wie es Mandeville, Bentham und deren heutigen Nachfahren in den Wirtschaftswissenschaften tun. Bei Marx geht aber es sicherlich um eine Interessen- und Bedürfnisbefriedigung, die an Rousseau und Kant erinnnert, die insofern von einem einzigen gemeinsamen Meta-Interesse an der Einstimmigkeit der faktischen Interessen des einzelnen mit den legitimen Interessen aller anderen geleitet und eingeschränkt wird.

    Im übrigen ist zu beachten, dass diese Bestimmung dessen, wozu alles Seiende nützlich ist, sich durchaus damit verträgt, dass man manchmal das, was nützlich ist, „niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“ (Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, AA IV, 433)