Phrónesis, Gewissen und Schuld in Sein und Zeit

Abstract

Dieses Paper bildet den Text eines Vortrags, den ich am 20.sten Juni, 2019, im Institut für Philosophie an der Universität Leipzig, und am 27.sten Juni, 2019 im Institut für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster, gehalten habe.

Einleitung

In seiner Vorlesung Platon: Sophistes aus dem WS 1924/25 behauptet Heidegger, dass mit der phrónesis Aristoteles auf das Phänomen des Gewissens gestoßen ist.1 Was meint er damit? Welchen Zusammenhang meint er hier zu sehen? Eine Aufgabe dieses Vortrags ist die Beantwortung dieser Frage. Doch das ist nicht seine wichtigste Aufgabe. Hat man nämlich geklärt, was Heidegger meint und warum, so hat man die nötige Grundlage erarbeitet, auf deren Basis man erklären kann, worauf Heidegger hinauswill, wenn er von unserem wesenhaften Schuldigsein spricht, von dem, also, was er als den Gehalt des recht verstanden Gewissensrufs betrachtet. Das gestattet hinwiederum eine Interpretation dessen, was Heidegger unter Entschlossenheit versteht; eine Interpretation, die nicht nur frei von Heidegger Jargon ist, sondern auch die Rede von Entschlossenheit als eine wichtige Einsicht in das Wesen der praktischen Rationalität endlicher Vernunftwesen herausstellt.

I. Wo ist die phrónesis in Sein und Zeit?

Das Wort phrónesis kommt in Sein und Zeit gar nicht vor. Um also zu ermitteln, wo sich der Begriff versteckt, müssen wir auf Texte zurückgreifen, in welchen Heidegger die phrónesis mit etwas ausdrücklich in Zusammenhang bringt, das namentlich in Sein und Zeit vorkommt und dort eine wichtige Rolle spielt. Dadurch gewinnen wir nämlich Hinweise darauf, wo wir bei der Suche im späteren Text ansetzen sollen.

Heidegger stellt einen derartigen Zusammenhang zum ersten Mal in dem Natorp-Bericht von 1922 her. Denn in diesem Text identifiziert er die phrónesis mit dem, was er die Umsicht nennt, die auf jeden Fall in Sein und Zeit eine wichtige Rolle spielt. Dieser Zusammenhang lässt erkennen, dass Heidegger die phrónesis als irgendwie ein ‘Sehen’ auffasst, zumindest insofern, als sich die Einsicht, in die sie mündet, sowohl nicht-deduktiv als auch gleichsam angesichts der Tatsachen ergibt: irgendwie spielt bei der Ausübung der phrónesis, sofern diese Ausübung ursprünglich ist, die Wahrnehmung mit. Das muss nicht heißen, dass die phrónesis nur ein ‘Sehen’ wäre, als wäre sie ein unvermittelter Einfall. Dass die phrónesis eine Sichtweise ist, verträgt sich durchaus damit, dass in ihrem Vollzug Regelbefolgung, Schlussfolgerung und früher erworbene Erkenntnisse eine Rolle spielen. Wie das alles zusammen zu denken ist, wird in einer diesem Absatz beigefügten Anmerkung durch ein konkretes Beispiel verdeutlicht.2

Nun spätestens bis Sein und Zeit hat Heidegger eingesehen, dass die phrónesis mit der Umsicht nicht identifiziert werden darf. Wie das von Heidegger selbst angeführte Beispiel von dem Hämmern zeigt, gehört die Umsicht nur zu dem gebrauchend-hantierenden Umgang mit Zeug.3 Identifiziert man also die phrónesis mit Umsicht, so ebnet man den Unterschied zwischen phrónesis und techné ein.4 Deshalb wird in Sein und Zeit die Umsicht ausdrücklich als die Sichtweise des alltäglichen Besorgens bestimmt, sie ist jetzt lediglich die Sicht, die das Handwerk bzw. technisches Können führt. Ferner steht ihr jetzt eine weitere Sicht gegenüber, die ihr beigeordnet ist: während die Umsicht den geschickten Umgang mit dem führt, was nicht Dasein ist, führt die Rücksicht den Umgang mit dem, das auch Dasein ist, also mit dem Mitdasein. Gemeint ist offenbar die Kunst des gekonnten Umgangs mit anderen Menschen, etwa die des guten Lehrers, des guten Managers, oder auch die des geschickten Gastgebers bei einer Abendgesellschaft, der weiß, seine Gäste sich wohl fühlen zu lassen, und so für einen spannungsfreien, angenehmen Abend zu sorgen. Jedoch deuten die Adjektive ‘gekonnt’ und ‘geschickt’ an, dass es sich auch bei der Rücksicht nicht um die phrónesis handelt, sondern nur um eine Ausdifferenzierung dessen, was Aristoteles unter techné vorschwebte. Also, wo ist die phrónesis in Sein und Zeit? Sie kann nicht verschwunden sein, denn, wie wir sehen werden, spielt sie in diesem Werk eine unentbehrliche Rolle.5

In § 31 von Sein und Zeit schreibt Heidegger,

Das Verstehen macht in seinem Entwurfcharakter existenzial das aus, was wir die Sicht des Daseins nennen. Die mit der Erschlossenheit des Da existenzial seiende Sicht ist das Dasein gleichursprünglich nach den gekennzeichneten Grundweisen seines Seins als Umsicht des Besorgens, Rücksicht der Fürsorge, als Sicht auf das Sein als solches, umwillen dessen das Dasein je ist, wie es ist.6 Die Sicht, die sich primär und im ganzen auf die Existenz bezieht, nennen wir die Durchsichtigkeit. Wir wählen diesen Terminus zur Bezeichnung der wohlverstandenen »Selbsterkenntnis«, um anzuzeigen, daß es sich bei ihr nicht um das wahrnehmende Aufspüren und Beschauen eines Selbstpunktes handelt, sondern um ein verstehendes Ergreifen der vollen Erschlossenheit des In-der-Welt-seins durch seine wesenhaften Verfassungsmomente hindurch. Existierendes Seiendes sichtet »sich« nur, sofern es sich gleichursprünglich in seinem Sein bei der Welt, im Mitsein mit Anderen als der konstitutiven Momente seiner Existenz durchsichtig geworden ist. (H 146; Fettdruck von mir)

Heidegger spricht hier von Selbsterkenntnis, nicht von der Erkenntnis dessen, was zu tun ist. Gleichwohl betont er, dass diese Selbsterkenntnis das Dasein in dem vollen Umfang seines In-der-Welt-seins erfasst. Es handelt sich also um eine Erkenntnis nicht nur dessen, wie das Dasein faktisch ist, sondern auch, wie es sich versteht und gern verstehen würde, folglich auch um eine Erkenntnis dessen, in welchem Maß sich diese und jene decken.7 Diese Struktur erhebt die Durchsichtigkeit zu einer wesentlich praktisch ausgerichteten Erkenntnis, die eine entscheidungs- und deshalb handlungsgestaltende Rolle beim Umgang mit Seiendem spielt.

Welche Rolle genau wird klarer, wenn man sich darauf besinnt, dass Heidegger davon ausgeht, dass sich das Dasein zunächst und zumeist gewissenhaft zum Seienden verhält,8 ob es sich dabei um eine wichtige Aufgabe handelt, um ein geschätztes Ding, um einen Freund oder einen zufällig auf der Straße angetroffenen Mitmenschen, um ein Familienmitglied, um eine vom ihm anerkannte Norm bzw. einen von ihm gebilligten Wert, oder sonst etwas, um dessen Erhalt und Bewahrung das Dasein sich sorgt. Offensichtlich kann Verschiedenes, um welches man sich in diesem Sinn sorgt, zur selben Zeit von ein und derselben Handlung betroffen sein. Die Einsicht darin, was zu tun ist, um sich gewissenhaft zum Seienden zu verhalten, muss sich also aus einer Abwägung verschiedener womöglich sich streitender Interessen ergeben.9 Darunter gehören aber natürlich auch die eigenen Interessen. Deshalb kann die Abwägung nur dann motivierende Kraft gewinnen, nur dann in Entscheidung und Handlung münden, sofern sich das Dasein auch fragt, was die Wahl dieser und nicht jener Handlung über es aussagen würde. Was wäre es für ein Daseiendes¸ wenn es dem und dem eigenen Interesse, das ihm u.U. sehr wichtig ist, den Vorrang geben würde? Verträgt sich das damit, wie es sich versteht bzw. gern verstehen würde?

Das deutet auf die Rolle der Selbsterkenntnis, oder vielmehr des Selbstverständnisses hin, die bzw. das Heidegger die Durchsichtigkeit nennt. Die phrónesis ermittelt, was zu tun ist, um sich sittlich zu verhalten. Indem sie aber das bestimmt, ermittelt sie auch zugleich, inwiefern das Ergreifen dieser und nicht jener der dem Dasein verfügbaren Handlungsoptionen sich mit seinem Selbstverständnis verträgt. Erst durch diese Rolle der Durchsichtigkeit geht die phrónesis in Entscheidung und Handlung über. Die Durchsichtigkeit wohnt der phrónesis inne, im Endeffekt als das, was sie von einer bloß theoretischen Betrachtung unterscheidet. Darin unterscheidet sich im Übrigen die phrónesis wohl auch von der bloßen Klugheit, die ja auch eine Art praktische Überlegung ist. Die Durchsichtigkeit darf also als die Sichtweise betrachtet werden, die der phrónesis eigen ist. Wir haben die phrónesis in Sein und Zeit gefunden.

Zu beachten ist, dass die Durchsichtigkeit schon im Abschnitt I eingeführt wird. Von daher muss das Dasein als solches zur phrónesis fähig sein—alles Dasein, ob eigentliches oder uneigentliches.10 Folglich muss Heidegger zwischen dem eigentlichen und dem uneigentlichen Vollzug der phrónesis unterscheiden. Und das tut er, allerdings nicht in Sein und Zeit, sondern in der schon erwähnten Vorlesung zu Platons Sophistes.11 Doch auch in Sein und Zeit klingt diese Unterscheidung an, dort, nämlich, wo Heidegger von dem rechten Hören des Gewissensrufs (§ 58 H 287) spricht; wie auch dort, wo er einräumt, dass „das existenziell-hörende Verstehen des Rufes“ eigentlich und weniger eigentlich vonstattengehen kann. (§ 58 H 280) Alldem kann man, wie wir gleich sehen werden, nur dann einen Sinn abgewinnen, wenn man das rechte Hören des Gewissensrufs als das versteht, in dessen Lichte sich die phrónesis eigentlich, d.h., am zuverlässigsten und auf längere Sicht am effektivsten, vollzieht.

II. Wie versteht Heidegger das Gewissen?

Wie bereits gesehen, geht Heidegger davon aus, dass sich das Dasein zunächst und zumeist gewissenhaft verhält. Die meisten Menschen halten sich meistens, und meistens wollen sich auch halten, an die geltenden Normen und Werte, an die alltäglichen Anstandsregeln und dergleichen. Nun ist die Gewissenhaftigkeit nicht selbst das Gewissen, sie deutet jedoch dieses an, als das, nämlich, was in die Bresche springt, wenn der zunächst und zumeist gewissenhaft ausgeführte alltägliche Umgang mit Seiendem in bestimmter Weise unterbrochen wird. Gemeint ist der Umstand, wo man von etwas konfrontiert wird, das aus ethischen Gründen eine Unterbrechung des Alltagsrhythmus verlangt. Die affektiv aufgeladene Erkenntnis stellt sich ein, „Das ist nicht richtig, man muss, ja, ich muss etwas dagegen unternehmen!“ Zu beachten ist, dass sich eine solche Erkenntnis nicht erst dann einstellen muss, wenn es sich um ein sogenanntes moralisches Dilemma handelt, wie wenn der Wächter sagt, „Erschieße diese Häftlinge oder ich erschieße Dich!“ Die Erfahrung von Unrecht tritt häufiger in Situationen auf, in denen weder man selbst noch ein anderer, der einem persönlich wichtig ist, leiblich bedroht ist: Man sieht einen Bericht in den Fernsehnachrichten über die Verseuchung der Meere durch Plastik, man wird vom Entsetzen gepackt und erkennt ganz klar, dass es einem obliegt, etwas dagegen zu unternehmen.12

Ich nehme jetzt im Weiteren an, dass Heidegger auch davon ausgeht, sicherlich zu Recht, dass das unmittelbare Betroffensein durch ein erfahrenes Unrecht das ursprüngliche Gewissenserlebnis13 ist. Das heißt, das Gewissen tritt ursprünglich als die affektiv aufgeladene Komponente einer Erfahrung des Unrechts auf, also, als jene Komponente, die dem Satz „ich muss etwas dagegen unternehmen“ entspricht. In dieser Erfahrung wird das Gewissen erst wach, was natürlich nicht bedeutet, dass es auch daraufhin immer in einer solchen Erfahrung eingebettet sein muss. Ferner setzen alle Funktionen und Rollen, die das Gewissen erfüllen mag, seinen Charakter als diese affektiv aufgeladene Komponente voraus.

Ist das jedoch so, dann wird sofort verständlich, warum Heidegger meint, dass das Gewissen nicht primär warnend bzw. rügend ist, wie die sogenannte „vulgäre Gewissensauslegung“ meint; und auch nicht primär ein innerlicher Richterspruch, wie Kant meint. Das Gewissen soll zur rechten Handlung motivieren. Deshalb muss seine erste Funktion und Rolle, diejenige, in der alle anderen gründen, darin bestehen, jene kognitive Leistung zu veranlassen, die die rechte Handlung ermittelt, die phrónesis, nämlich. Gerade deshalb ist die phrónesis, so Heidegger selbst, „ … das in Bewegung gesetzte Gewissen … .“14 (GA 19, § 8 H 56) Dass er dies als die erste und primäre Funktion des Gewissens ansieht, wird durch Heideggers seltsame Rede von dem Wählen der Wahl bestätigt, die jetzt selber dadurch verständlich wird: die affektiv aufgeladene Erfahrung eines Unrechts enthält eine Gewissenskomponente, deren Funktion darin besteht, das Dasein dazu zu motivieren, explizit zu wählen, eine Entscheidung, und insofern eine Wahl, reflektiv zu treffen15—im Grunde die phrónesis auszuüben. Zu betonen ist, dass diese Klärung nur deshalb möglich ist, weil dem Gewissen die Funktion zugeschrieben wurde, die phrónesis gleichsam anzustoßen.16

Wenn also das die erste Funktion des Gewissens ist, d.h., wenn die phrónesis aus dem Gewissenserlebnis ursprünglich hervorgeht, so kann man ihren Vollzug als etwas verstehen, was sich auf verschiedene Weise geschieht, je nachdem, wie sich das Dasein zu diesem Erlebnis verhält—mit Heidegger geredet, je nachdem, ob das Dasein den Gewissensruf recht versteht oder nicht. Man kann dann Begriffe wie die Entschlossenheit, das eigentliche Selbstsein und die Eigentlichkeit recht verständlich machen, indem man sie nämlich als Bestimmungen auffasst, die dem Dasein insofern zukommen, als es den Gewissensruf recht hört, d.h. dazu veranlasst wird, die phrónesis irgendwie ‘angemessen’ bzw. ‘exemplarisch’ zu vollziehen. Alles kommt also jetzt darauf an, ob sich verständlich machen lässt, was Heidegger als das rechte Hören des Gewissensrufs bezeichnet. Deshalb wende ich mich jetzt jenem Paragraphen von Sein und Zeit zu, in dem Heidegger angibt, was er für den Gehalt des Gewissensrufs hält. Das ist der schwierige Paragraph 58, der die Überschrift trägt, „Das Anrufverstehen und die Schuld.“

III. Das existenziale Schuldigsein des Daseins

Was gibt der Ruf des Gewissens zu verstehen? „Alle Gewissenserfahrungen und -auslegungen sind,“ so Heidegger, „darin einig, daß die »Stimme« des Gewissens irgendwie von »Schuld« spricht.“ (Sein und Zeit, § 57 H 280) Offenbar ist die ‘Stimme’, von der hier die Rede ist, das Gewissenserlebnis selbst. Also, das Gewissen soll zu verstehen geben, dass das Dasein schuldig ist. Zunächst scheint das verständlich; was könnte das Gewissen sonst leisten, als das Dasein sich dessen bewusst werden zu lassen, dass es durch die und die Handlung Schuld auf sich beladen hat bzw. beladen würde? Doch so einfach ist es nicht. Zum einen ist das Gewissen kein bloßes Erkennen—als würde es das Dasein über eine wirkliche oder bloß mögliche Verschuldung informieren. Vielmehr meldet sich das Gewissen angesichts einer Verschuldung, um die also das Dasein bereits wissen muss. Das Gewissenserlebnis selbst ist eher das schmerzhafte Bewusstsein eines wirklichen oder bloß möglichen Verlusts an Selbstachtung, der dem Dasein aufgrund einer wirklichen oder bloß möglichen Verschuldung widerfährt bzw. widerfahren würde. Zum anderen sieht Heidegger das alles ein. Das Gewissen teilt nichts mit, vielmehr ruft es zu etwas auf. Ruft aber das Gewissen dazu auf, schuldig zu sein, so scheint sich die Ungereimtheit zu ergeben, dass es zum Bösen aufruft.17

Besinnen wir uns darauf, worum es hier Heidegger eigentlich geht. Er will das Phänomen des Gewissens ontologisch bzw. existenzial verstehen. Das heißt, er sucht, eine transzendentalphilosophische Rolle für das Gewissen zu identifizieren; eine Rolle, die es spielt, ganz gleich wie genau dieses Phänomen existenziell, d.h. vorphilosophisch, zu beschreiben ist. Es reicht ihm also, einfach zu konstatieren, dass „die »Stimme« des Gewissens irgendwie von »Schuld« spricht.“ (Sein und Zeit, § 57 H 280) Auf diese existenzielle Bestimmung muss man nicht weiter eingehen, denn, so vage sie ist, reicht sie schon, um einen Hinweis auf die Rolle zu geben, die das Phänomen des Gewissens transzendentalphilosophisch, d.h. ontologisch bzw. existenzial erfüllt. Schon diese Charakterisierung deutet auf eine Beschaffenheit hin, die, weil sie allen Handlungen des Daseins wesenhaft zukommt, zu seinem Sein gehört.

Diese Beschaffenheit wird sichtbar, indem wir fragen, was alle Verwendungen des Wortes ‘Schuld’ einigt. Tatsächlich spricht man vorphilosophisch in mehrfacher Weise von Schuld.18 Und Heidegger meint, alle diese Redewendungen haben einen gemeinsamen Nenner: sie deuten alle auf einen ‘Nicht’-Charakter hin. Es „liegt,“ so Heidegger, „in der Idee von »schuldig« der Charakter des Nicht.“ (Sein und Zeit, § 58 H 283) Um diesen ‘Nicht’-Charakter herauszuarbeiten, greift Heidegger auf jene Bedeutung von ‘Schuld’ zurück, die im Spiel ist, wenn man sagt, dass jemand daran Schuld hat, dass das und das geschah. Gemeint ist offenbar die Handlungskausalität. Der Nicht-Charakter von allen Handlungen des Daseins, und deshalb von dem Dasein selbst, weil ja dieses wesentlich handelnd ist, hat etwas mit der Handlungskausalität zu tun.

Um aber anzugeben, was es damit zu tun hat, könnte man zunächst versucht sein, auf solche Begriffe wie die der Mangelhaftigkeit bzw. der Privation zurückzugreifen. Doch das muss scheitern, weil es bei dem gesuchten ‘Nicht’-Charakter um eine Beschaffenheit geht, die der Handlung als solcher wie auch dem Dasein als solchem zukommt. Die Rede von Mangelhaftigkeit ist aber zweideutig, je nachdem, ob der Mangel auf einen Regelverstoß zurückzuführen ist, was eine Norm voraussetzt; oder auf die Beeinträchtigung eines Interesses, was dieses voraussetzt. Das aber, was Heidegger mit dem ‘Nicht’-Charakter meint, ist nicht in dieser Weise äquivok. Der ‘Nicht’-Charakter deutet auf eine Beschaffenheit hin, die allen Handlungen des Daseins und damit auch dem Dasein selbst gleichermaßen zukommt. Damit zusammenhängend ist diese Beschaffenheit sowohl der Handlung als auch dem Dasein intern, während ein Mangel etwas Relationales ist, das durch einen externen Maßstab, entweder eine Norm oder ein Interesse, konstituiert wird. Der ‘Nicht’-Charakter ist also nicht zu verstehen als etwas Defizitäres an der Handlung bzw. dem Dasein, sondern als etwas, was beiden unaufhebbar zukommt, ganz gleich ob die Handlung eine sittliche oder eine zweckrationale ist.

Aus diesen Gründen greift Heidegger den Begriff von Nichtigkeit auf, der sowohl aus der Theologie als auch aus der Rechtswissenschaft stammt. Der Nicht-Charakter ist durch den Begriff von Nichtigkeit zu explizieren. Es geht jetzt nicht um Mangelhaftigkeit, sondern um Eitelkeit, Vergeblichkeit und den bloßen Schein von Gültigkeit. Genauer, es geht um Vergebliches, weil Durchkreuztes, und deshalb Eitles; um Seiendes, das etwas zu sein beansprucht, ja sogar zu sein versucht, was es nicht ist und auch nicht sein kann.19 Wie ist das zu verstehen?

IV. Die existenziale Schuld als das Nichtig-Sein des Daseins und seiner Handlung

Am Ende einer recht gewundenen Besprechung behauptet Heidegger, dass die Sorge, also, das Sein des Daseins, dieses als den geworfenen Entwurf konstituiert. Und das besagt, so Heidegger, dass das Dasein „(d)er (nichtige) Grund einer Nichtigkeit“ und deshalb „… als solches schuldig …“ ist. (Sein und Zeit, § 58 H 285) Wichtig hier ist der doppelte Einsatz des Begriffs von Nichtigkeit. Die Nichtigkeit des Daseins und seiner Handlung scheint in zweierlei Weise auf: zum einen ist das Dasein, als der Grund seiner Handlung, nichtig, zum anderen ist die Handlung selbst nichtig. Die Nichtigkeit betrifft also einerseits das Verhältnis des Daseins zu seiner Handlung, andererseits das Verhältnis seiner Handlung zur Welt. Ferner, weil die Sorge das Dasein als den geworfenen Entwurf konstituiert, sind diese zwei Dimensionen der Nichtigkeit jeweils der Geworfenheit und dem Entwurfcharakter des Daseins zugeordnet. Weil das Dasein als solches geworfen ist, ist es, als der Grund seiner Handlung, nichtig. Und weil seine Handlung ein Entwurf ist, ist sie selbst nichtig. Das erste Verhältnis ist durch die Geworfenheit des Daseins bedingt, das zweite durch seinen Charakter als Entwerfendes.

Was das erste Verhältnis anbetrifft, so ist das Dasein deshalb der nichtige Grund seiner Handlungen, weil es der Geworfenheit überantwortet, ja ausgeliefert ist. Die Rede von Überantwortung und Ausgeliefertsein zeigt an, dass es sich bei der Geworfenheit keineswegs nur um die soziale, geschichtliche oder kulturelle Bedingtheit des Daseins handelt.20 Die Geworfenheit ist wesentlich mehr als eine solche Bedingtheit, denn sie besagt, dass sich das Dasein immer in einem Handlungskontext befindet, über den es nicht verfügt. Das heißt, die Handlung findet immer in einem Kontext statt, in welchem dem Dasein Unerwartet-Abträgliches21 begegnen kann. Der Erfolg seiner Handlung hängt also davon ab, dass das Dasein ohne vorausgehende Planung dem Unerwartet-Abträglichen Rechnung tragen und so die Entgleisung seiner Handlung verhindern kann. Gerade diese Notwendigkeit hat die Rede von Sicht von vornherein motiviert: die ‘Gesichtetheit’ des Umgangs mit Seiendem besagt, dass dieser Umgang kein algorithmisches Hantieren mit strengen, d.h. komputationalistisch bzw. deduktiv zu verstehenden Regeln ist. Die Sicht, ob nun Umsicht oder Rücksicht oder Durchsichtigkeit, fängt gleichsam das Unerwartete auf, allerdings nur auf der Basis von vorgegebenen Regeln, die aber nur Faustregeln sind.22 Also, was Heidegger meint, wenn er das Verhältnis des Daseins zu seiner Handlung als eine Nichtigkeit bezeichnet, ist Folgendes: weil das Dasein der geworfene Grund seiner Handlung ist (Sein und Zeit, § 58 H 284), besteht unaufhebbar die Möglichkeit, dass, trotz größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die Umstände seiner Handlung diese vereiteln und sogar zunichtemachen.

Wie lässt sich aber der hermeneutische Vorgriff, dass, wenn Heidegger von Nichtigkeit spricht, er Vergeblichkeit, Durchkreuzung und deshalb Eitelkeit meint, auf das zweite Verhältnis, das Verhältnis der Handlung zur Welt, übertragen? In der Vortragsreihe, die Heidegger 1925 in Kassel gehalten hat, findet sich die folgende Passage:

Jede Handlung ist zugleich Schuld. Denn die Möglichkeiten der Handlung sind begrenzt gegenüber den Forderungen des Gewissens. So ergibt jede sich durchsetzende Handlung Konflikte. Wählen der Selbstverantwortung ist also Schuldig-werden in einem absoluten Sinne. Ich werde schuldig, sofern ich überhaupt bin, wenn ich überhaupt handle. (Heidegger 1992-93, S.169)

Zunächst, d.h. wortwörtlich genommen, scheint Heidegger Folgendes zu meinen: ganz gleich wie sorgfältig und gewissenhaft das Dasein eine Handlung durchführt, insbesondere ganz gleich wieviel Planung es in seine Handlung investiert haben mag, wird die Handlung in Konflikt mit etwas geraten, das dem Dasein wichtig ist: etwa einer ethischen Norm, die es anerkennt, oder irgendwelchen Interessen, die es bewahren möchte. In diesem Sinn wird seine Handlung immer schaden, immer verletzen.23

Offensichtlich darf der Schaden, von dem bzw. die Verletzung, von der hier die Rede ist, nicht darin bestehen, dass die Handlung gegen irgendeine ethische Norm verstößt. Wie schon angedeutet, könnte die Handlung in dem Sinn schaden bzw. verletzen, dass sie irgendwelche Interessen beeinträchtigt. Also, nur wenn die Nichtigkeit des Verhältnisses der Handlung zur Welt beide Möglichkeiten, Normenverstoß und Interessenbeeinträchtigung, indifferenterweise umfasst, wird gewährleistet, dass alle Handlungen des Daseins, einfach in ihrer Eigenschaft als Handlungen des Daseins, nichtig, mithin schuldig sind. Also nur dann kann von einer echt ontologischen Beschaffenheit gesprochen werden. Gerade deshalb betont Heidegger, dass „(d)ie Idee der Schuld … [sowohl] … von dem Bezug auf ein Sollen und Gesetz … “ abgelöst als auch „… über den Bezirk des verrechnenden Besorgens hinausgehoben …“ werden muss. (Sein und Zeit, § 58 H 283) Nur dann wird diese Idee, und damit auch der Begriff von Nichtigkeit, so breit gefasst sein, dass sie einerseits kein ethisches Sollen, andererseits kein Interesse implizieren. Allerdings darf das nicht so verstanden werden, als wäre damit ausgeschlossen, dass die Idee der Schuld, mithin der Begriff von Nichtigkeit entweder ein ethisches Sollen oder ein Interesse unterstellen. Das muss man einräumen, sonst wären beide so dünn, dass sie keinen Inhalt hätten.24

Doch an dieser Stelle müssen wir vorsichtig sein: nehmen wir Heidegger bei Wort, so wir laufen Gefahr, ihm Absurdes zuzuschreiben. Wenn nämlich jede Handlung des Daseins in dem Sinn schuldig ist, dass sie etwas verletzt, das für das Dasein wichtig ist, so ergibt sich aus dieser Handlung ein Schaden, den das Dasein schon vor der Handlung hätte vorwegnehmen sollen. Also, das Dasein, sooft es handelt, hat immer schon von etwas abgesehen, das es hätte berücksichtigen sollen; es hat immer etwas in Betracht zu Ziehendes außer Betracht gelassen. Damit wird der Handlungsbegriff, sofern er beinhaltet, dass sich idealerweise eine Handlung rational ergibt, ad absurdum geführt.

Heidegger kann also nicht genau das meinen, was er in der oben zitierten Passage wortwörtlich sagt. Tatsächlich will er, wie ich meine, auf etwas Schwächeres hinaus: dem Dasein sind Grenzen gesetzt, die durch seine Geworfenheit bestimmt sind. Diese Grenzen konstituieren das Dasein als den nichtigen Grund aller seiner Handlungen. Das ist die Nichtigkeit in dem ersten von Heidegger unterschiedenen Sinn. Je mehr nun eine Handlung den Versuch objektiv verkörpert, der unaufhebbaren Geworfenheit des Daseins Herr zu werden—das heißt, je mehr sie den Versuch verkörpert, den Charakter des Daseins als nichtig im ersten Sinn zu leugnen—, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie etwas schadet bzw. etwas verletzt, das dem Dasein wichtig ist, also desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die Handlung als nichtig im zweiten Sinn erweist. Auffallend ist, dass jetzt ein Zusammenhang zwischen dem Nichtig-Sein im ersten und dem Nichtig-Sein im zweiten Sinn besteht. Das spricht für diese Interpretation. Zusammen, und nur zusammen, bilden beide Nichtigkeiten das existenziale Schuldigsein des Daseins. In diesem echt ontologischen Sinn ist es immer schon verletzend, folglich immer schon schuldig.25

Was das heißt konkret, lässt sich an Beispielen verdeutlichen. Der Präsident einer großen freiheitlichen Demokratie will den üblen Diktator eines kleinen Landes bei Seite schaffen. Er hat zwei Möglichkeiten, von denen wir annehmen können, dass sie kostengleich sind. Entweder entsendet er seinen besten Agenten ins Land, wo der Nachrichtendienst ein starkes Netzwerk von einheimischen Sympathisanten aufgebaut hat. Der Agent solle ins Land gehen, sich durch die vielen Verbündeten im Lande mit der dortigen Lage vertraut machen und zusammen mit diesen einen Plan vor Ort ausklügeln und durchführen. Ihm werden alle Mittel bereitgestellt, die er aufgrund der im Lande selbst erworbenen Kenntnisse für nötig erachte. Oder aber der Präsident hört auf seine Generäle, die unbedingt ihre neueste Technik ausprobieren wollen, die ihm deshalb empfehlen, den Diktator mit einer ihrer neuesten Raketen zu erledigen. Diese seien indessen so zielgenau, dass die Chancen, daneben zu schießen und dadurch viele unschuldige Menschen umzubringen, gleich null sind. Allerdings müsse man den Einsatz der Rakete mit Hilfe von viel Technik genau verfolgen und überwachen, damit alles auf Kurs bleibt und nichts Störendes dazwischenkommt.26 Offensichtlich fordert diese hochtechnisierte Lösung des Problems die Geworfenheit des Daseins wesentlich tiefer heraus. Natürlich kann bei beiden Handlungsalternativen vieles schief gehen, doch nur bei der letzteren bedeutet das Scheitern, dass viele Unschuldige verletzt werden. Also, diese letztere ist im existenzialen Sinn schuldiger als die erstere.

Es lässt sich ein weiteres, besonderes lehrreiches Beispiel anführen. Eine Entwicklungshilfeorganisation will die Armut in einem Entwicklungsland bekämpfen. Sie hat zwei Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen, von welchen wir annehmen, dass sie kostengleich sind. Entweder arbeitet sie mit ausländischem Kapital zusammen, um moderne Fabriken zu errichten, die Arbeitsplätze schaffen, allerdings zu einer Tarif, die in einem entwickelten Land als Ausbeutung gelten würde, die aber den gegenwärtige einheimischen Durchschnitt weit übersteigt. Oder sie arbeitet mit der einheimischen Bevölkerung zusammen, um dort bereits etablierte Wirtschaftszweige schrittweise zu verbessern. Dadurch werden mehr Arbeitsplätze mit weniger Umschulung geschaffen, doch die Löhne steigen weniger, so dass sich die zu erwartende Steigerung des Nationaleinkommens nicht von der der ersten Alternative unterscheidet. Auch hier kann bei beiden Alternativen vieles schief gehen, doch schließt sich die erstere nicht so nahtlos an das Bestehende an. Bei ihr kann also wesentlich mehr auf unerwartete Weise schiefgehen, man muss wachsamer sein und bei auftretenden Störungen stärker und schneller eingreifen, bevor diese gefährlich ausarten und so die Handlung vereiteln—eben zunichtemachen. Die erste Alternative ist im existenzialen Sinn schuldiger als die zweite.27

V. Die Entschlossenheit als Beschaffenheit einer eigentlich vollzogenen phrónesis

Was aber leistet der Begriff von existenzialer Schuld? Was heißt es, dass das Gewissen zum existenzial verstandenen Schuldigsein aufruft? Hält man sich an den existenzialen Sinn vom Schuldigsein, „(d)ann,“ so Heidegger,

bedeutet … das Aufrufen zum Schuldigsein ein Vorrufen auf das Seinkönnen, das ich je schon als Dasein bin. Dieses Seiende braucht sich nicht erst durch Verfehlungen oder Unterlassungen eine »Schuld« aufzuladen, es soll nur das »schuldig«—als welches es ist—eigentlich sein. (Sein und Zeit, § 58 H 287)

Das Gewissen ruft also dazu auf, das ‘schuldig’ im existenzialen Sinn praktisch, d.h. verhaltensbedingend anzuerkennen. Das Dasein ist an sich schuldig im existenzialen Sinn, es soll sich danach verhalten und dadurch so sein, wie es eigentlich ist.28 Das Dasein, sofern es zwischen zwei möglichen Handlungen wählen muss, die dasselbe auf jeweils verschiedene Weise bezwecken und einen vergleichbaren Aufwand bedeuten, soll sich für diejenige Möglichkeit entscheiden, die seine Geworfenheit weniger herausfordert und leugnet. Der Präsident wird den Agenten entsenden und keine Raketen abfeuern. Die Entwicklungshilfeorganisation wird bereits etablierte Wirtschaftszweige schrittweise verbessern und keine fremde Produktionsweise aufpfropfen.

Das rechte existenziale Hören des Gewissensrufs besteht also darin, dass das Dasein die phrónesis im Lichte seines Schuldigseins vollzieht. Denn angesichts seiner Geworfenheit stellt sich der Handlungserfolg erst dann zuverlässig ein, wenn sich das Dasein nicht hochmütig verhält. Nur dann wird die phrónesis so vollzogen, wie sie eigentlich ist. Die Handlungsrationalität erfordert, dass sich das Dasein beim praktischen Überlegen und dem daraus resultierenden Handeln nach einer Metamaxime richtet, die auf ein Vorbeuge- bzw. Vorsichtsprinzip hinausläuft.

Diese Interpretation dessen, worin das rechte Hören des Gewissensrufs besteht, hat einen großen Vorteil. Sie macht nämlich möglich, eine Stelle im Paragraphen 58, die zu den dunkelsten in Sein und Zeit überhaupt gehört, verständlich und sogar plausibel zu machen: „Anrufverstehen besagt: Gewissen-haben-wollen.“ (Sein und Zeit, § 58) Nicht nur ist diese Wortbildung seltsam, die These, in deren Formulierung sie zum Einsatz kommt, scheint widersprüchlich zu sein. Wie kann das rechte Hören des Gewissensrufs beinhalten, dass das Dasein das Gewissen haben will? Hat es nicht immer schon das Gewissen, indem es den Ruf überhaupt versteht? Wie kann das Gewissen noch zu wollen sein? Man scheint sich rein formal in einen Widerspruch zu verwickeln, egal was genau unter Gewissenhabenwollen verstanden wird.

Doch das von Heidegger Gemeinte hat tatsächlich einen guten Sinn, den erst die hier aufgestellte Interpretation klar zu Tage fördert. Das Dasein, das den Gewissensruf recht versteht, verhält sich wachsam gegen die Möglichkeit, dass alles schiefläuft, insbesondere, dass es durch seine Handlung etwas ihm Wichtiges auf unerwartete Weise verletzt. Das Dasein begreift die Lage, in der es handelt, als seine Situation,29 das heißt, es begreift seinen Handlungskontext als einen tendenziell prekären. Es nimmt deshalb die Ungewissheit auf sich, die dieses situierende Verständnis seiner Lage mit sich bringt. Nicht nur wählt es die Handlungsmöglichkeit, die weniger nichtig und deshalb weniger schuldig ist. Sondern es nimmt stets vorweg, dass selbst bei der sorgfältigsten Ausübung der phrónesis es in eine Situation hineingeraten kann, die im folgenden Sinn widersprüchlich ist: für alle möglichen Handlungen H kann es sich weder auf H noch auf nicht-H rational einlassen. Die affektiv aufgeladene Vorwegnahme der Wirklichkeit einer solchen radikalen Widersprüchlichkeit ist, wie ich hier nicht begründen kann, die ich aber unter Berufung auf Luthers Anfechtungen begründen würde,30 die Angst, die den Bedeutsamkeiten des alltäglichen Umgangs ihre motivierende Kraft nimmt und so die Welt als unheimlich erscheinen und das Dasein nicht mehr zu Hause sein lässt.31

Was aber das Risiko dieses Widerspruchs und damit auch die Angst so eingrenzt, dass das Dasein sich praktisch überlegen und handeln kann, ist die Offenheit für die Möglichkeit des Scheiterns, insbesondere, für die Möglichkeit, dass etwas dem Dasein Wichtiges unerwarteterweise verletzt wird. Deshalb weckt der recht verstandene Gewissensruf das Bedürfnis, das Gewissen weiterhin zu haben, gerade als etwas, was die Handlung in ihrem Verlauf reguliert, dem Scheitern insofern vorbeugend bzw. dieses minimierend, als es eine währende Wachsamkeit gegen etwaige Risiken darstellt. Dadurch schränkt das Dasein die „Gewissenlosigkeit“ des Handelns ein:

Jedes Handeln … ist faktisch notwendig »gewissenlos«, … weil es auf dem nichtigen Grunde seines nichtigen Entwerfens je schon im Mitsein mit Anderen an ihnen schuldig geworden ist. So wird das Gewissen-haben-wollen zur Übernahme der wesenhaften Gewissenlosigkeit, innerhalb der allein die existenzielle Möglichkeit besteht, »gut« zu sein.“ (Sein und Zeit, § 58 H 288)

Das deutet auf den Unterschied zwischen dem eigentlich sittlichen Verhalten und der wie auch immer gutgemeinten, pflichtbewussten Selbstgerechtigkeit hin:32 der Selbstgerechte hat es nicht nötig, das Gewissen weiterhin zu haben.

Ist nun das alles so, dann ist die Haltung, in der das rechte Hören des Gewissensrufs besteht, genauso, wie Heidegger sie beschreibt: sie ist eine „ausgezeichnete, … eigentliche Erschlossenheit—das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein … .“ (Sein und Zeit, § 60 H 296-297) Heidegger nennt das die Entschlossenheit.33 Diese ist angstbereit aus dem bereits angegebenen Grund. Sie ist aber verschwiegen, weil sie nicht selber in der Begründung bzw. Begründetheit einer Handlung besteht, sondern in einer allem Handlungsbegründen gegenüber eingebauten Vorsicht, die vor Überheblichkeit34 schützt. Es ist also ein Missverständnis, die Entschlossenheit mit irgendwelcher irrationalistischen Entschiedenheit im Sinne von Jünger oder Schmitt gleichzusetzen.35 Die Entschlossenheit ist nur insofern jenseits der Anführung und Beurteilung von Handlungsgründen, als sie diese ergänzt und dadurch vollendet.36

Schluss—Das eigentliche Selbstsein als das Frei-Sein-Für und die Endlichkeit des Daseins

Zum Schluss schauen wir uns jene Erfahrung des Unrechts nochmal an, die Heidegger als den Ort des ursprünglichen Gewissenserlebnisses betrachtet: jemand A erkennt auf affektiv aufgeladene Weise, „Das ist nicht richtig, man muss, ja, ich muss etwas dagegen unternehmen!“ Sofern A nicht unmittelbar einleuchtet, was zu tun ist, stellt sich die phrónesis explizit ein und A zieht den Schluss, dass er die und die Handlung vollziehen soll. Es fällt auf, dass es in dieser einen praktischen Schlussfolgerung zwei Übergänge gibt: einmal einen von der Erkenntnis, dass man, ja ich etwas gegen das und das Unrecht unternehmen muss, zu einem konkreten Handlungsentschluss—man muss, ja, ich muss die Handlung H vollziehen—; und dann einen anderen, logisch aber nicht notwendigerweise zeitlich dem ersten vorgeschaltet, von einem „Man muss … „ zu einem „Ich muss … .“

Der erste Übergang ist offensichtlich die nicht deduktive, sondern eher abduktive praktische Überlegung, die das Herzstück der phrónesis bildet. Und er kann eigentlich oder uneigentlich geschehen, je nachdem, ob sich das Dasein dabei unter Berücksichtigung seines existenzialen Schuldigseins überlegt oder nicht. Das wirkt sich aber auf den zweiten Übergang aus. Je nachdem, ob sich die phrónesis eigentlich oder uneigentlich vollzieht, d.h., ob sich das Dasein unter Berücksichtigung seines existenzialen Schuldigseins überlegt oder nicht, nimmt der Übergang von dem „man muss … „ zu dem „ich muss … ,“ zweierlei Gestalt an: in dem Fall, dass sich die phrónesis uneigentlich vollzieht, ist der zweite Übergang der bloß logische von der allgemeinen Erkenntnis „man muss … “ zu dem spezifischen Fall „Ich muss … “ Vollzieht sich aber die phrónesis eigentlich, so ist der zweite Übergang gewichtiger: er ist jetzt der Übergang aus dem, was Heidegger das Man bzw. die Verlorenheit in das Man nennt, in den Modus des eigentlichen Selbstseins.

Gerade diesen Übergang meint Heidegger, wenn er behauptet, „Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikation des Man … .“37 (Sein und Zeit, § 54 H 268; Kursivierung von mir) Der Adjektiv ‘existenziell’ ist ernstzunehmen: die gemeinte Modifikation findet existenziell statt, sie besteht darin, dass das Dasein aus dem Vertrauen auf die eingespielten, entscheidungsentlastenden Verhaltensmuster des Alltags herausgelöst und in einen allerdings nur gelegentlich zu erreichenden, nicht andauernden Zustand versetzt wird, den Heidegger das eigentliche Selbstsein nennt. Dieser Zustand ist gerade durch die Entschlossenheit gekennzeichnet und in diesem Zustand wird das Dasein frei in einem medialen Sinn, der der Freiheit in dem aktiven Sinn des Frei-Seins, dieses oder jenes zu tun, begrifflich vorausgeht. Es handelt sich um das Frei-Sein-für—frei für die Gelegenheiten und Gefahren, die von der objektiven Lage jenseits der Gesetze, Vorschriften, Konventionen und Faustregeln aufgeworfen werden, die den alltäglichen Umgang regeln und dadurch ermöglichen. Erst jetzt kann das Gewissen die Funktion übernehmen, auf die Heidegger mit seiner seltsamen Rede von Gewissenhabenwollen hindeutet. Erst jetzt ist die objektive Lage zur eigentlichen Handlungssituation geworden, in der das Dasein eigentlich frei ist, dieses oder jenes zu tun.

Zuallerletzt möchte ich das, worin die Entschlossenheit gründet, die Geworfenheit nämlich, etwas weiter bestimmen, weil das Wichtiges über den Inhalt und die Relevanz der (Früh-)Philosophie Heideggers verrät. Die praktische Anerkennung der Metamaxime einer sich bescheiden haltenden Vorsicht, die die phrónesis und das daraus resultierende Handeln ent-schlossen sein lässt, ist nur deshalb für die Handlungsrationalität des Daseins konstitutiv, weil es ein Geworfenes ist. Die Geworfenheit bildet nun die eine, die synchronische Seite der Endlichkeit des Daseins. Die andere diachronische Seite ist das Sein zum Tode, auf welches ich hier nicht eingehen kann.38 Zu betonen ist nur, dass die Geworfenheit eine Endlichkeit des Daseins in seiner Eigenschaft als Seiendes ist, zu dessen Wesen die phrónesis gehört. Die Endlichkeit schränkt zwar das Dasein in Hinsicht auf seine praktische Vernunft ein, sie ist aber ebendeshalb nur durch Rückbezug auf diese verständlich zu machen. Deshalb wage ich zu behaupten, auch wenn Heidegger diese Charakterisierung nicht billigen würde, dass es im zweiten Kapitel des zweiten Abschnitts, ja in Sein und Zeit überhaupt, um die Explizierung dessen geht, was es heißt, ein endliches Vernunftwesen, ein animal rationale zu sein.

Der Nachteil einer traditionsbelasteten Sprache wird durch einen Vorteil aufgewogen. Versteht man nämlich Heideggers Anliegen so wie hier interpretiert und soeben gekennzeichnet, wird der Grund dafür ersichtlich, weshalb so viele immer wieder die Relevanz Heideggers für die Umweltphilosophie und eine Kritik an dem technokratischen Denken empfunden haben, ohne sie klar ausmachen und begründen zu können. Diese Relevanz lässt sich bündig in der These zusammenfassen, dass Heidegger Ernst Schumacher vorwegnimmt: klein ist schön.39 Zugleich sehen wir, dass diese Relevanz nicht erst mit der Spätphilosophie beginnt. Sie liegt nämlich schon in Sein und Zeit vor.40 Ferner deutet der soeben hergestellte Bezug zu Schumacher auf den wahren Grund jener Volkstümelei hin, auf die sich Heidegger gelegentlich einlässt. Viele haben diese als Ausdruck bzw. Folge eines dezisionistischen Irrationalismus aufgefasst, der sich nicht nur grün, sondern auch braun färben lässt.41 Das ist jedoch ein Missverständnis der Philosophie Heideggers. Was aber die Person anbetrifft, so meine ich, dass sich hinter der Volkstümelei das Bedürfnis steckt, rational der endlichen praktischen Vernunft Grenzen zu setzen, um sie dadurch eigentlich sein zu lassen.

Literatur

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Aristoteles 1999 Nichomachean Ethics, trans. W.D. Ross, Batoche Books (NE)

Christensen, C. 2007a “What are the Categories in Sein und Zeit? Brandom on Heidegger on Zuhandenheit,” in European Journal of Philosophy, Vol. 15, No. 2, pp.159-185

Christensen, C. 2007b „Using Luther to Understand Heidegger on Anxiety”

Christensen, C. 2012 “The Problem of das Man—A Simmelian Solution,” in Inquiry—An Interdisciplinary Journal of Philosophy, Vol. 55, No. 3, pp.262–288

Church, G. 2019, “The Maths Problem that could bring the World to a Halt,” British Broadcasting Corporation, 9.ter Juni, 2019

Fischer, N., und von Herrmann, F-W. (hrsg.) 2007 Heidegger und die christliche Tradition, Hamburg: Meiner Verlag

Garrard, G. 2010 “Heidegger Nazism Ecocriticism,” in ISLE (Interdisciplinary Studies in Literature and Environment), Vol. 17, No. 2, pp. 251-271

Heidegger, M. 1979 Sein und Zeit, 15.te Auflage, Tübingen: Max Niemeyer Verlag

Heidegger, M. 1992 Platon: Sophistes, Marburger Vorlesung aus dem WS 1924-25, Gesamtausgabe, Bd. 19, hrsg. von Ingebord Schüßler, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann; zitiert als GA 19

Heidegger, M. 1992-1993 „Wilhelm Dilthey’s Forschungsarbeiten und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung,“ in Dilthey-Jahrbuch, Bd. 8, S.143-180; auch in Vorträge 1915-1967, GA 80

Pöggeler, O. 2009 Philosophie und hermeneutische Theologie. Heidegger, Bultmann und die Folgen, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag

Schumacher, E. 1977 Small Is Beautiful: A Study of Economics As If People Mattered, London: Blond & Briggs

von Krockow, C. 1958 Die Entscheidung—Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart (zugl. Diss.)

Notes

  1. „So gibt es bezüglich der φρόνησις auch keine λήθη: σημεῖον δ᾽ ὅτι λήθη μὲν τῆς τοιαύτης ἕξεως ἔστι, φρονήσεως δ᾽ οὐκ ἔστιν (b28 sqq). Bei der φρόνησις gibt es nicht die Verfallensmöglichkeit des Vergessens. Zwar ist die Explikation, die Aristoteles hier gibt, sehr knapp. Aber es ist doch aus dem Zusammenhang deutlich, daß man in der Interpretation nicht zu weit geht, wenn man sagt, daß Aristoteles hier auf das Phänomen des Gewissens gestoßen ist. Die φρόνησις ist nichts anderes als das in Bewegung gesetzte Gewissen, das eine Handlung durchsichtig macht.“ GA 19, § 8 H 56.

    An einer Stelle bemerkt Aristoteles, dass es unmöglich ist, die phrónesis auszuüben, ohne gut zu sein, weshalb man die phrónesis nicht mit der bloßen Klugheit verwechseln darf—siehe NE VI, Kap. 12. Das kann man als einen Grund dafür ansehen, die phrónesis in Zusammenhang mit dem Gewissen zu bringen. Ist nämlich der phrónimos wesentlich tugendhaft, so erliegt er gelegentlich der Versuchung, wird also auch Schuld und Scham empfinden, mithin Gewissensbisse erleiden.

  2. Das lässt sich an einem Beispiel für die Umsicht verdeutlichen: ein gekonnter Radiologe schaut sich Röntgenbilder von einer Lunge an. Selbstverständlich kennt er einige Faustregeln, die er während seiner Studienzeit gelernt hat, Faustregeln, die ihm damals erlaubten, Schatten zu erkennen, die auf Krebsgeschwüre hindeuten. Diese Regeln geben an, wann im allgemeinen Schatten auf Röntgenbildern Krebs anzeigen: ein Schatten an der und der Stelle, mit der und der Größe und Gestalt, und mit der und der Konsistenz hinsichtlich Schattierung und Dichte ist ceteris paribus ein Krebsgeschwür. Also, Stelle, Größe, Gestalt, Schattierung und Dichte sind die Merkmale, auf die bei der Erstellung einer Diagnose zu achten sind.

    Gleichwohl sind solche Merkmale oft sehr schwierig in ihrer Relevanz bzw. Bedeutsamkeit zu erkennen. M.a.W., dass ein Schatten unter die Faustregeln fällt, ist oft sehr schwer festzustellen. Doch über die Jahre hinweg hat der Radiologe so viel Erfahrung bei der Anwendung dieser Regeln erworben, dass er jetzt im Stande ist, auch dann Krebs zu sehen, wenn die Merkmale nicht stark hervortreten, nicht gleich ins Auge springen. Zunächst hat er die Regeln bewusst angewandt und sie haben ihn in den augenfälligsten Fällen zu einer richtigen Diagnose geführt. Allmählich ist aber die Anwendung von Regeln weggefallen; an ihrer Stelle ist die Fähigkeit getreten, direkt einzusehen, wann und wann nicht Krebs vorliegt. Allerdings bleibt das Sehen des Radiologen immer noch ein durch Regeln und sonstige Erkenntnisse vermitteltes. Denn die Regeln leiten seine Praxis immer noch, jetzt aber nur in dem Sinn, dass der Radiologe jetzt auf sie retrospektiv zurückzugreifen weiß, um zu erklären und rechtfertigen, warum der und der Schatten auf dem Bild auf Krebs hindeutet.

  3. Vgl. Sein und Zeit, § 15 H 69.

  4. Eigentlich erst in Sein und Zeit trägt Heidegger unzweideutig diesem wichtigen Unterschied Rechnung. In der Zeit, die zwischen dem Natorp-Bericht und Sein und Zeit liegt, bleibt alles unklar. Spuren von seiner frühen Identifizierung sind auch noch in der Sophistes Vorlesung zu finden.

  5. Ohne den Begriff von phrónesis, d.h., der ethisch ausgerichteten praktischen Überlegung, wäre es Heidegger nicht möglich, zwischen Schuld in dem sogenannten existenzialen Sinn und Schuld in dem üblichen alltäglichen, d.h. existenziellen Sinn methodologisch zu unterscheiden. Ferner wäre es auch nicht möglich, zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, insbesondere, zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Selbstsein zu unterscheiden. Das sind alle Unterscheidungen ohne welche alles, was Heidegger zur Entschlossenheit sagt, gar nicht ginge.

  6. Siehe auch Sein und Zeit, § 41 H 191 und H 193.

  7. M.a.W., sie erfasst ungefähr das, was Sartre unter Faktizität verstand, wie auch das, was er Transzendenz nannte.

  8. Das tut natürlich auch Aristoteles. Auch ihm zufolge verhalten sich die Menschen zunächst und zumeist sittlich.

  9. Obwohl er gelegentlich von der phrónesis als etwas spricht, was irgendwie eine ‘wahrnehmungsmäßige’ Dimension hat, bezeichnet Aristoteles sie hauptsächlich als eine abwiegende Überlegung über sich streitende Interessen und miteinander unvereinbare Handlungsmöglichkeiten. Erst recht, wenn wir bedenken, dass die Interessen des Daseins selber zu jenen gehören, die es ihm zu berücksichtigen gilt, können wir sagen, dass schon für Aristoteles die phrónesis jene praktisch ausgerichtete kognitive Leistung ist, durch die sich das Dasein als das erhält bzw. verwirklicht, was und wie es seinem eigenen Selbstverständnis nach idealerweise wäre. Ihre gelungene Ausübung über die Zeit hinweg konstituiert das Dasein geradezu als etwas, das regelmäßig und zuverlässig alles ihm irgendwie Wichtige, darunter auch sich selbst, so angeht, wie es sich angesichts dessen Seins gehört. Diese Fähigkeit, phrónesis regelmäßig und zuverlässig auszuüben, m.a.W., sie als einen beständigen Charakterzug, als eine Tugend, zu besitzen, ist also ein Können, die Dinge so einzurichten, dass man weitmöglichst so sein kann, wie man idealerweise wäre. In diesem Sinn gehört sie zum Seinkönnen des Daseins.

    Interessanterweise sieht Aristoteles einen engen Zusammenhang zwischen der intellektuellen Tugend der phrónesis und der ethischen Tugend der sophrosýne (Besonnenheit): der besonnene Mensch ist eher in der Lage, phrónesis regelmäßig auszuüben, d.h., die phrónesis als Tugend zu besitzen. Die sophrosýne erhält und bewahrt die phrónesis—siehe NE, Buch VI, Kap. 5, 1140a 24—1140b 30. Aber offensichtlich gilt auch das Umgekehrte: die Tugend zuverlässiger, gelingender phrónesis erhält und bewahrt die sophrosýne. Schließlich ist die sophrosýne, als ein Zustand des Gleichgewichts, in dem sich das Bestreben, das Gute und Richtige zu tun, nicht mit der Bedürfnisbefriedigung in Streit gerät, wie auch umgekehrt, so dass beide im Einklang miteinander stehen, die wahre Zufriedenheit und das wahre Glück. Ein Leben, für welches die sophrosýne in diesem Sinn zur Gewohnheit geworden ist, ist das gute Leben. Und das sieht das Dasein gerade dadurch ein, dass es die phrónesis regelmäßig und zuverlässig ausführt, was offensichtlich unterstellt, dass die phrónesis zugleich die Ermittlung, die Bewährung und die Bewahrung dessen ist, was und wie man eigentlich ist.

  10. Tatsächlich darf das nicht verwundern, denn das Pathos von Eigentlichkeit ist dem Denken von Aristoteles fremd.

  11. Siehe GA 19, § 22 a) α. H 149 und β. H 149-151.

  12. Gelegentlich stößt die Erfahrung von Unrecht in der Weise zur phrónesis an, dass die Leitfrage der praktischen Überlegung nicht bloß die nach der rechten Handlung ist, sondern die nach dem guten Leben. Das sieht man besonderes klar an dem Beispiel von Umweltverschmutzung durch Plastik. Denn in diesem Fall muss man die Möglichkeit sehr wohl in Betracht ziehen, dass man die eigene Lebensweise und Verhalten verändern muss, was beträchtliche Unbequemlichkeiten bedeuten kann. Man wird sich wohl fragen müssen, nicht nur, ob es eine andere gerechtere Lebensweise gibt, sondern auch eine, die kein unannehmbar großes Opfer verlangt. Man ist ja selbst ein moralisch zu berücksichtigendes Wesen, dessen Interessen ebendeshalb auch in Betracht zu ziehen sind. Man muss sich also fragen, ob man wirklich so leben muss wie jetzt, um überhaupt glücklich zu sein. Das ist offenbar die ganz allgemeine, aber immer noch praktisch ausgerichtete, nicht bloß kontemplative Frage nach dem guten Leben.

  13. In Sein und Zeit spricht Heidegger an zwei Stellen von dem „Gewissenserlebnis“: § 57, H 279 und § 59, H 290.

  14. Dem fügt Heidegger hinzu, dass das Gewissen, sofern es in Bewegung gesetzt, d.h. die phrónesis ist, bzw. diese veranlasst, „ … eine Handlung durchsichtig macht.“ Zu beachten hier ist die Verwendung des prädikativen Adjektivs ‘durchsichtig’: sie deutet darauf hin, dass es richtig ist, die phrónesis mit der oben herausgestellten dritten Art der Sicht, der Durchsichtigkeit, zu verbinden.

  15. Und ggf. diese Entscheidung nicht den entlastenden angewöhnten Verhaltensmustern des Mans zu überlassen.

  16. Selbstverständlich muss sich die phrónesis nicht explizit einstellen. Es ist möglich, dass man unmittelbar erkennt, was zu tun ist. Doch auch in dem Fall bleibt die phrónesis immer in dem Sinn beteiligt, dass das Dasein seinen Handlungsentschluß immer retrospektiv begründen kann. Die phrónesis ist also immer zumindest virtuell beteiligt.

  17. Siehe Sein und Zeit, § 58 H 287.

  18. Das sieht man genauer im Englischen: es gibt Schuld im Sinne von ‘debt’, Schuld im Sinne von ‘responsibility’, ‘blame’, und ‘fault’, Schuld im Sinne von ‘guilt’ und Schuld im Sinne von ‘culpability’ und ‘liability’, wobei die Bedeutung insbesondere von ‘liability’, aber auch zum Teil von ‘culpability’ alle vorangehenden in sich vereint.

  19. Die Rede von Nichtigkeit hat auf jeden Fall theologische Wurzeln. In der Elberfelder Bibel z.B. kommt das Wort dreißig Mal vor, und ich vermute—ich hatte keine Zeit, dies zu überprüfen—, dass überall dort, wo das Wort ‘Nichtigkeit’ in dieser Übersetzung steht, man in der Vulgata das Wort ‘vanitas’ findet. Zu beachten ist aber auch, dass das Wort ‘nichtig’ ebenfalls eine juristische Bedeutung hat, deren sich Heidegger zweifellos bewusst ist, auf die er vielleicht auch anspielt. Etwas ist in diesem Sinn nichtig, wenn es rechtliche Gültigkeit beansprucht, diese aber eingebüßt bzw. nimmer eigentlich besitzt hat. Auch bei dieser rechtlichen Bedeutung findet man das Moment der eitlen Vergeblichkeit, auf die es Heidegger ankommt. Etwas ist nichtig, wenn es etwas zu sein beansprucht, was es nicht eigentlich ist.

  20. Liefe die Geworfenheit des Daseins bloß auf die soziale, geschichtliche und kulturelle Bedingtheit hinaus, so wäre die Rede von ihr banal. In diesem Zusammenhang wichtiger, es ließe sich nicht einsehen, wie die Geworfenheit für irgendwelche Nichtigkeit verantwortlich sein könnte.

  21. Aber natürlich auch Unerwartet-Dienliches und -Förderliches.

  22. Die Notwendigkeit, mit dem Unerwarteten ‘on the fly’, d.h. spontan, fertig zu werden, motiviert die Rede von Entwurf und Entwerfen, was zeigt, dass die Geworfenheit und der Entwurfcharakter des Daseins und seines Handeln miteinander verschränkt sind. Mit seiner Rede von Entwurf und Entwerfen will Heidegger nämlich auf zweierlei hinaus: erstens, den Charakter aller Handlungsintentionen von zumindest einem endlichen Vernunftwesen als wesentlich ‘gappy’, d.h. lückig. Sie können und dürfen nicht so bestimmt sein, dass sie alle Einzelheiten der jeweiligen Handlung im Voraus festlegen, sonst könnte das Dasein nicht spontan sein Handeln an das Unerwartete optimierend anpassen. In diesem Sinn müssen Handlungsintentionen Entwürfe sein, ihr Bilden und Verwirklichen ein Entwerfen, d.h. ein vorläufiges, provisorisches Skizzieren. Zweitens meint Heidegger, dass das Handeln bzw. die Verwirklichung von Handlungsintentionen, gerade weil es ein Entwerfen im soeben angegebenen Sinn ist, auch ein Ent-werfen, ein „de-throwing“ ist. Handeln heißt Aufheben bzw. Transzendieren des Geworfenseins—selbstverständlich nicht in dem Sinn, dass die Geworfenheit ganz beseitigt oder aufgehoben wäre, was unmöglich ist, sondern in dem Sinn, dass durch das Handeln die Geworfenheit immer wieder neu eingerichtet wird.

    Im übrigen stellen sogenannte „dynamic resource allocation problems“ glänzende Beispiele für den Charakter des Daseins als des nichtigen Grundes seines Handelns dar. „All [dynamic resource allocation] examples need to deal with changing inputs and environments, which are highly dynamic and difficult to estimate and predict, as the future load is not statistically dependent on the current load,” says Eiko Yoneki, a senior researcher leading the data centric systems group at the University of Cambridge’s Computer Laboratory. “One change triggers another change, and if you want to control the system with accurate decisions, one must consider the future status of the system.“ (Church 2019; Kursivierung von mir) Auffallend an dieser Passage ist die klare Erkenntnis, dass man das gegenwärtige Verhalten eines Systems aus der Perspektive der möglichen Zukunft dieses Systems steuern muss, wenn man mit solchen Problemen fertig werden will. Ob die Systeme, von denen Yoneki spricht, jemals wirklich bzw. vollständig mit solchen Problemen fertig werden können, sei dahingestellt. Wichtig ist nur die Idee von Steuerung aus der Perspektive der Zukunft. Gerade diese Perspektive, sofern es richtig zum ‘System’ selbst gehört, und diesem nicht bloß von außen her durch denjenigen aufgepfropft ist, der das ‘System’ konzipiert und in Gang gesetzt hat, ist das gesichtete Verstehen, das dafür sorgt, dass das Dasein entwerfend, seine Handlung ein Entwurf ist.

  23. Selbstverständlich lässt sich diese implizite Definition dessen, worin der schadende, verletzende Charakter der Handlung eines endlichen Vernunftwesens besteht, so erweitern, dass sie auch den Fall erfasst, wo der Schaden bzw. die Verletzung eine ethische Norm voraussetzt, die das Dasein faktisch nicht anerkannt hat, die es aber anerkennen soll.

  24. Weder ist eine Handlung nichtig, dann ist ein Sollen und kein Interesse vorausgesetzt, noch ist sie nichtig, dann ist ein Interesse und kein Sollen vorausgesetzt, wohl aber ist sie nichtig, dann ist entweder ein Sollen oder ein Interesse vorausgesetzt.

  25. Offenbar liegt dieser Auffassung des endlichen Handlungssubjekts die anti-pelagasische theologische Tradition von Augustinus und Luther ideengeschichtlich zugrunde.

  26. Wir nehmen hier an, dass es einige Zeit dauern wird, bis die dazu erforderliche Technik in Stellung gebracht und bereit gemacht ist, dass also deshalb diese Alternative nicht wesentlich weniger Zeit erfordert als die andere. (Diese Annahme gehört ja eigentlich zur generellen Annahme der Kostengleichheit.)

  27. Ansari 2016 gibt ein aktuelles politisches Beispiel für eine staatspolitische Maßnahme, die weniger schuldiger ist als die herkömmliche Unterwerfung unter das globale Agrar- und Lebensmittelsystem. Im Allgemeinen ist der Regionalismus und Lokalismus unschuldiger als das heutzutage vorherrschende Wirtschafts- und Handelssystem, das durch ein gefährlich hohes Maß an Komplexität, Wechselwirkung und fester Kopplung gekennzeichnet ist.

  28. Ich bin versucht, das Adverbium ‘so’ durch die Adverbialbestimmung ‘für sich’ zu ersetzen.

    Im übrigen ist das Sollen hier kein ethisches, sondern ergibt sich aus der ontologischen Verfassung des Daseins als eines endlichen Vernunftwesens: will das Dasein am eigentlichsten, am effektivsten, so sein, wie es an sich ist, dann wird es sich zum Seienden unter praktischer Anerkennung seines existenzialen Schuldigseins verhalten. Hat jedoch das Dasein einen Grund, eigentlich sein zu wollen? Aus dem Text geht nicht hervor, ob es nach Heidegger einen solchen Grund hat. Es bleibt also unbestimmt, ob Heidegger zufolge ein endliches Vernunftwesen muss vernünftig sein wollen. Im Rahmen einer phänomenologisch verfahrenden Fundamentalontologie ließe sich das nur in der Weise begründen, dass man die transzendentalphilosophische Notwendigkeit eines solchen Wollens phänomenologisch aufwiese. Da, wie wir gleich sehen werden, die praktische Anerkennung des Schuldigseins die Ausübung der phrónesis optimiert, da ferner die phrónesis zur Sorge gehört, könnte man vielleicht etwa mit Aristoteles argumentieren, dass jedes Dasein einen Grund hat, eigentlich sein zu wollen, weil die optimale Ausübung der phrónesis ceteris paribus zum (wahren) Glück führt.

  29. Vgl. Sein und Zeit § 60 H 299.

  30. Siehe Christensen 2007b.

  31. Heidegger hat also durchaus recht, das rechte Verständnis des Gewissensrufs in Verbindung mit der Angst zu bringen und damit „das im Grunde seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein“ mit dem „Rufer des Gewissensrufes“ gleichzusetzen—siehe Sein und Zeit, § 57 H 276. Bekanntlich wendet Levinas dagegen ein, dass es grundsätzlich falsch ist, den Rufer mit dem Gerufenen, d.h. dem Dasein selbst gleichzusetzen. Tatsächlich sei der Rufer der durch das Dasein entweder möglicherweise oder tatsächlich verletzte Andere. M.E. läuft diese Kritik auf ein völliges Missverständnis von dem Phänomen des Gewissens hinaus. Zweierlei ist richtig: erstens, in dem Gewissensphänomens gibt es tatsächlich eine Rolle für „das Gesicht des Anderen“; und zweitens diese Rolle wird von Heidegger übersehen, was vielleicht damit zusammenhängt, dass sich Heidegger an Luther und Kierkegaard orientiert, die Augen nur für Gott und ihr Verhältnis zu ihm haben. Doch dass es diese unerlässliche Rolle gibt, beinhaltet nicht, dass es falsch wäre, den Rufer mit dem Gerufenen zu identifizieren, und tatsächlich muss diese Identifizierung gemacht werden, will man das Gewissen richtig verstehen: ich bin es, der mir die Achtung abspricht, die ebendeshalb eine Selbstachtung ist—allerdings nur angesichts dessen, was ich dem anderen antue, ein ‘Angesichtssein’, das in dem leiblichen Mitempfinden des Schmerzes besteht, den ich dem anderen zufüge. In seiner Heidegger-Kritik vermengt Levinas die Rolle des Anderen im Gewissensphänomen mit der Rolle des Anderen in dem bloßen Nachempfinden.

  32. Nach einer der vulgären Gewissensauslegungen, die Heidegger in § 59 bespricht, „soll [das Gewissen] den Menschen von sich sagen lassen: »ich bin gut«; wer kann das sagen, und wer wollte es weniger sich bestätigen als der Gute?“ (Sein und Zeit, § 59 H 291; Kursivierung von mir) In der Tat: das rechte Hören des Gewissensrufs hält zur Bescheidenheit an. Dass also der Gute, der den Ruf recht versteht, sein Gutsein nicht verkünden will, ist keine zufällige Eigenschaft, sondern gehört zu seinem Wesen.

  33. Was Heidegger meint, lässt sich besser festhalten, indem man die Vorsilbe mit einem Bindestrich abteilt: „Ent-schlossenheit,“ also die Überwindung bzw. Aufhebung der Geschlossenheit.

  34. Irgendwo weist Pöggeler darauf hin, wahrscheinlich in Pöggeler 2009, dass die Entschlossenheit in der christlichen humilitas wurzelt.

  35. Auf genau diese Weise missversteht von Krockow Heidegger—siehe von Krockow 1958.

  36. Gerade das hat im übrigen Luther mit seiner Kritik an Aristoteles und der traditionellen Bestimmung des Menschen als eines animal rationale gemeint—was er eigentlich gemeint hat, als er die Vernunft krass abgetan hat als eine Hure.

  37. Eine Anmerkung zu dieser Passage verweist auf § 27, H 126ff., inbes. H 130, wo Heidegger Ähnliches behauptet.

  38. Außer nebenbei zu anzumerken, dass auch diese Seite der Endlichkeit des Daseins durch Rückgriff auf Christlich-Theologisches, oder vielmehr Christlich-Religiöses auszulegen ist, spezifisch, die Erfahrung des Todes als stets bevorstehend, die Luthers im Jahre 1505 bei Stotternheim machte, die ihn deshalb dazu bewogen hat, ins Kloster zu gehen.

  39. Siehe das berühmte Schumacher 1977.

  40. Tatsächlich meine ich, dass sich alles, was streng zu der fundamentalontologischen Analyse des Daseins gehört, insbesondere alles, was im zweiten Kapitel des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit steht, mit der Spätphilosophie verträgt. Im Allgemeinen wird die in Sein und Zeit dargebotene Daseinsanalytik so wenig von der Spätphilosophie überholt, ihr wird von dieser so wenig widersprochen, dass sie eine Voraussetzung dieser ist und bleibt—wie Heidegger eigentlich immer beteuert hat. Damit soll nicht bestritten werden, dass es bedeutsame, insbesondere meta-philosophische Unterschiede gibt, obwohl ich auch hier der Meinung bin, dass diese Unterschiede die Metaphilosophie, die Sein und Zeit zugrunde liegt, keineswegs verwerfen, sondern klären und präzisieren.

  41. Für ein besonders krasses Beispiel aus jüngster Zeit siehe Garrard 2010.